Angewandte Mathematik heute: Vom mathematischen Modell zum ...

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Topologie, Vektor-, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Zahlentheorie, Statistik und Informatik. So hätte man Mathematik auch vor 70 Jahren erklären können – daß ...
Angewandte Mathematik heute: Vom mathematischen Modell zum Computerprogramm∗ Hubert Schwetlick Institut f¨ ur Numerische Mathematik Technische Universit¨at Dresden Zusammenfassung Der Computer hat die heutige Welt in nicht erwarteter Weise beeinflußt und ver¨ andert. Insbesondere hat er zu einer explosionsartigen Ausbreitung der Angewandten Mathematik in fast allen Bereichen der Gesellschaft gef¨ uhrt und die Angewandte Mathematik selbst in ihrer Entwicklung erheblich vorangetrieben. Im Vortrag soll erl¨ autert werden, was Angewandte Mathematik heute ist, was sie leistet und wie sie in ¨ Verbindung mit dem Computer wirksam wird. Leider hat die Offentlichkeit diese Entwicklung kaum zur Kenntnis genommen, und auch die schulische wie die unversit¨are Mathematikausbildung widmen ihr nicht gen¨ ugend Aufmerksamkeit. Dies kann die Zukunft der Mathematik und der Mathematiker gef¨ahrden — Professoren an Universit¨ aten und Lehrer an den Schulen sollten die Gefahr erkennen und ihr entgegentreten.

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Reine und Angewandte Mathematik — zwei zerstrittene Schwestern?

Mathematik gibt es seit Tausenden von Jahren, und man kann davon ausgehen, daß solch prosaische Ziele wie das Abz¨ahlen von Gegenst¨anden oder das Vermessen von Landst¨ ucken zu ihrem Entstehen beigetragen haben und keinesfalls der Wunsch, intelligent mit abstrakten Objekten umzugehen. In meinem k¨ urzlich gekauften Brockhaus in drei B¨ anden [2] von 1995 werden 15 Zeilen f¨ ur das Stichwort Mathematik spendiert; es heißt dort: Mathematik [griech.], eine der ¨ altesten Wiss., hervorgegangen aus den prakt. Aufgaben des Z¨ ahlens, Rechnens und Messens, die sich zu einer Wissenschaft von den formalen Systemen (D. Hilbert) entwickelte. Die M. sieht ihre Aufgabe v.a. in der Untersuchung sog. Strukturen, die durch die in einer vorgegebenen Menge beliebiger Objekte definierten Relationen und Verkn¨ upfungen definiert sind. Nach traditioneller Einteilung gliedert sich die M. in die Arithmetik, die Geometrie, die Algebra und die Analysis. Wichtige Teilgebiete der M. sind Ausgleichs- und Fehlerrechnung, Funktionalanalysis, Kombinatorik, Mengenlehre, Topologie, Vektor-, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Zahlentheorie, Statistik und Informatik. So h¨atte man Mathematik auch vor 70 Jahren erkl¨aren k¨onnen – daß heute ohne Mathematik kein Computer laufen und kein Flugzeug fliegen w¨ urde, ist dem jedenfalls nicht zu entnehmen. Mein aus vor-Wende-Zeiten stammendes Meyers Universal Lexikon [6] von 1980 in vergleichbarem Umfang – Brockhaus 16.5 cm, Meyer 17.5 cm Regall¨ange – sagt auf immerhin 38 Zeilen: ∗

in: Vortr¨ age des 4. Dresdner Kolloquiums zur Mathematik und ihrer Didaktik am 23. Februar 1999, Techn. Univ. Dresden, Fachrichtung Mathematik, Professur f¨ ur Didaktik der Mathematik, pp. 13-01–13-13, 1999

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Mathematik [lat. gr.]: Wiss. von den quantitativen und qualitativen Eigenschaften der real vorhandenen und der m¨ oglichen Strukturen unserer Umwelt. Die Mathematik ist gekennzeichnet durch ihre Begriffsgenauigkeit, die Strenge ihrer Beweise u. ihren weitgehend deduktiven Charakter. Die M. steht in enger Wechselwirkung mit den Naturwiss.en wie Physik u. Astronomie, die Messungen u. messende Experimente ausf¨ uhren; . . . F¨ ur viele Wiss.en ist die Anwendung mathemat. Methoden unerl¨ aßlich. Neben vielf¨ altigen quantitativen Problemen besch¨ aftigt sich die M. auch mit qualitativen Untersuchungen an verschiedenartigsten Strukturen. . . . Gegenw¨ artig bereichern auch Technik, Kybernetik u. Computerentwicklung in starkem Maße die zu bearbeitenden mathemat. Probleme. Anwendungen der M. in den Gesellschaftswiss. bahnen sich an. Entsprechend der Vielfalt der Anwendungsgebiete ist eine große Anzahl mathemat. Disziplinen entstanden, deren wechselseitige Zusammenh¨ ange u. Gemeinsamkeiten in der M. auf immer h¨ oherem Abstraktionsniveau untersucht werden, wobei Abstraktion im positivem Sinne als Absehen von Unwesentlichem verstanden wird. . . . Wichtige Teilgebeite der M. sind z.B.: Analysis (Differential- u. Integralrechnung, Differentialgleichung u.a.), Algebra (Gleichung, Gruppe, K¨ orper), Geometrie (darstellende Geometrie, analyt. Geometrie, Differentialgeometrie, nichteuklid. Geometrie u.a.), Topologie, Mengenlehre, Wahrscheinlichkeitsrechnung u. Statistik, Kombinatorik, Zahlentheorie Danach werden noch 1 1/4 Seiten f¨ ur die Stichworte Geschichtliches, mathematische Erwartung, mathematische Ger¨ ate, Mathematische Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik, mathematische Linguistik, mathematische Logik, mathematische Optimierung, mathematische Statistik, mathematische Tafeln und mathematische Zeichen bereitgestellt. Der Vergleich dieser beiden Zitate k¨onnte Gegenstand mehrerer Magisterarbeiten in kultur-, politik- und wissenschaftshistorischen Disziplinen sein; ich will darauf nicht weiter eingehen. Die oben herausgestrichene Abstraktion1 hat sich im Laufe der Entwicklung der Mathematik notwendigerweise ergeben; der russische Mathematiker A. Alexandrov [1] schrieb dazu 1971: Die Besonderheit der Mathematik (gegen¨ uber anderen Wissenschaften, d.A.) besteht jedoch darin, daß sie ihre Abstraktionen absolutiert . . . ; deren Vergleich mit der Wirklichkeit ist jedoch nicht eine Aufgabe der Mathematik selbst, sondern ihrer Anwendungszweige. Als Gegenstand der Mathematik dienen die idealisierten Objekte selbst. . . . Dementsprechend wird die Mathematik als Wissenschaft von den quantitativen Beziehungen und r¨ aumlichen Formen definiert, die in idealisierter, vom Inhalt abstrahierter Form verwendet werden. . . . Ihre rein deduktive Methode ist eine unausweichliche Folge einer solchen Fixierung ihres Gegenstandes, da die idealisierten Objekte auf triviale Weise nicht Objekte der Erfahrung sein k¨ onnen. An dieser Stelle kommen die Begriffe Reine Mathematik und Angewandte Mathematik ins Spiel: Gemeinhin versteht man unter Angewandter Mathematik diejenigen Gebiete der Mathematik, die sich mit der Anwendung von Mathematik außerhalb ihrer selbst, also in Natur-, Ingenieur- und anderen Wissenschaften, auf reale Erscheinungen und Prozesse befassen. In gewissen mathematischen Disziplinen l¨aßt sich das (fast) nicht vermeiden, dazu geh¨oren insonderheit die Gebiete • Angewandte Analysis • Optimierung und optimale Steuerung 1 deren Charakterisierung als “positiv” in Meyers Lexikon aus DDR-Zeiten ist der negativen Besetztheit des Begriffes abstrakt in der sozialistischen Ideologie geschuldet

2

13 – 03

• Statistik • Computergeometrie und Visualisierung sowie als Querschnittsdisziplin die • Numerische Mathematikt. Das Komplement der Angewandten Mathematik ist die Reine Mathematik; nat¨ urlich verlaufen die Grenzen fließend. Vertreter der Reinen Mathematik ¨außerten und ¨außern h¨aufig (gelegentlich auch militant) die Ansicht, daß nur sie die Mathematik repr¨asentieren und Anwendungen der Mathematik von den Nutzern, also Naturwissenschaftlern, Ingenieuren usw. betrieben werden m¨ogen. Es wird berichtet, daß Anwendungen der Mathematik in der Technik von Kummer als schmutzige Mathematik, von Landau sogar als Schmier¨ olMathematik bezeichnet wurden, siehe [3]. Seitdem tobt der Kampf zwischen diesen ungleichen Schwestern: Es geht um wissenschaftliche und gesellschaftliche Anerkennung, die Anziehung der besten Studenten, Einfluß auf Studienpl¨ane, Stellen und Geld. Daneben gibt aber auch zahlreiche Mathematiker, f¨ ur die es nur eine Mathematik gibt. Das unerreichte Vorbild der zu dieser Kategorie geh¨orenden Mathematiker, die sowohl in der Reinen als auch in der Angewandten Mathematik zu Hause sind, ist Carl Friedrich Gauß. Er hat in den nachfolgenden Generationen viele Nachfolger gefunden wie etwa Kolmogorov und Pontrjagin in Rußland, von Neumann und der aus Deutschland emigrierte Courant in den USA — um nur einige zu nennen. Zum Beispiel ließ auch der Angewandte Mathematiker Lothar Collatz bei seinen Vortr¨agen – u.a. in Dresden – keine Gelegenheit ungenutzt, die Bedeutung der Anwendungen, aber auch die Einheit der Mathematik zu betonen. Man kann jedoch die Unterschiede zwischen Reiner und Angewandter Mathematik oder besser zwischen Reinen und Angewandten Mathematikern nicht leugnen: Sie alle betreiben die Mathematik zwar nach denselben, durch das Gebiet selbst gepr¨agten Regeln und Methoden, und insofern geh¨oren alle zur selben, einheitlichen Mathematik, aber sie unterscheiden sich ganz wesentlich in der Motivierung und der Zielstellung ihrer Arbeit. Peter Henrici, ein Vertreter der konstruktiven komplexen Analysis, hat das einmal wie folgt beschrieben [5]: Die Mathematik verdankt einen Großteil ihrer Vitalit¨ at verschiedenen Paaren entgegengesetzter Kr¨ afte oder Polarit¨ aten, die sich in der Vergangenheit alle als fruchtbar erwiesen haben. Es gen¨ ugt, die Polarit¨ aten zwischen rein und angewandt, abstrakt und konkret, theorieorientiert und problemorientiert zu erw¨ ahnen. Die Polarit¨ at, die ich vor Augen habe, ist die zwischen dialektischer und algorithmischer Mathematik: Dialektische Mathematik

Algorithmische Mathematik

– ist eine streng logische Wissenschaft, in der Aussagen entweder wahr oder falsch sind und in der Objekte mit spezifischen Eigenschaften entweder existieren oder nicht existieren.

– ist ein Werkzeug zum L¨ osen von Problemen. Hier interessiert nicht nur die Existenz eines mathematischen Objektes, sondern auch die Auswirkungen dieser Existenz.

– ist ein intellektuelles Spiel, das nach Regeln gespielt wird, u ¨ber die ein hohes Maß an Konsens besteht.

– ist ein Spiel, dessen Regeln von der Dringlichkeit des zu l¨ osenden Problems abh¨ angen.

– ruft Kontemplation hervor.

– ruft Aktion hervor.

– erzeugt Einsicht.

– erzeugt Ergebnisse. 3

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Auf dem Hamburger International Congress on Industrial and Apllied Mathematics ICIAM 96 hat V. I. Arnol’d dies in seinem Hauptvortrag kurz und pr¨agnant wie folgt ausgedr¨ uckt: Der Unterschied zwischen Reiner und Angewandter Mathematik ist kein wissenschaftlicher, sondern ein sozialer: • Reine Mathematiker werden bezahlt, um Mathematik zu betreiben. • Angewandte Mathematiker werden bezahlt, um spezifische Probleme zu l¨ osen.

2

Wie wird Mathematik heute angewendet?

A. Alexandrov schrieb in seinem bereits zitierten Aufsatz: Die Mathematik ist ein m¨ achtiges und universelles Instrument der Erkenntnis und der L¨ osung von Aufgaben u ugend klar definierte Strukturen abzeichnen. ¨berall dort, wo sich gen¨ Dies ist sicher der Fall in den klassischen Anwendungsgebieten Physik und Ingenieurwissenschaften, mit einem zeitlichen Verzug gefolgt von Chemie und Biotechnologie. In den letzten Jahrzehnten haben jedoch auch andere Wissenschaften einen Stand erreicht, bei dem solche klar definierten Strukturen erkennbar werden und damit eine Mathematisierung erfolgen kann. Ich denke an Wirtschaftswissenschaften, Biologie, Medizin und Sozialwissenschaften, aber auch Geisteswissenschaften wir etwa Linguistik o.¨a. In jedem Fall beginnt die Anwendung der Mathematik auf einen interessierenden realen Prozess mit der mathematischen Modellierung, d.h., mit der Beschreibung des Prozesses in der Sprache der Mathematik. Dazu muß der Modellierer zun¨achst die Prozeßvariablen festlegen, die zur Beschreibung des Prozesses erforderlich sind. Diese Prozeßvariablen bilden in der Regel ein Tripel (x, u, p), das sich aus den Zustandsgr¨ oßen x, den Steuer- oder Kontrollgr¨ oßen u sowie den Parametern p zusammensetzt. Die Zustandsgr¨oßen x beschreiben den sich auf Grund der unterliegenden Gesetzm¨aßigkeiten einstellenden Zustand des Prozesses, z.B. die Temperatur in einem erw¨armten Metallstab, die Kr¨afte in einem Stabwerk oder die Konzentrationen chemischer Stoffe bei einer Reaktion. Die Kontrollgr¨oßen u bezeichnen von außen einstellbare Gr¨oßen, die in einer Menge U zul¨assiger Steuerungen variieren k¨onnen und mit denen der Prozeß beeinflußt (gesteuert) werden kann, etwa die vorgegebene Temperatur an einem Ende des Metallstabes, die Klemmenspannung bei einem elektrischen Schaltkreis oder die Anfangskonzentrationen oder Stoffzuf¨ uhrungen bei einer chemischen Reaktion. Die Parameter p bezeichnen problem- bzw. materialspezifische Gr¨oßen, die in die Zustandsgleichungen eingehen, etwa die W¨armeleitf¨ahigkeit des Metalls, aus dem der erw¨armte Stab gefertigt ist, die Biegefestigkeiten der St¨abe des Stabwerkes oder die Geschwindigkeitskonstanten der einzelnen chemischen Reaktionen. Dann muß der funktionale Zusammenhang zwischen den Prozeßvariablen x, u und p gefunden werden. Dieser hat in aller Regel die Form einer Modellgleichung F (x, u, p) = 0,

(1)

die eine Gleichgewichtsbedingung – also einen Erhaltungssatz – ausdr¨ uckt. Beim erw¨armten Stab ist ist das die W¨armebilanz, im elektrischen Netzwerk sind das die Kirchhoffschen Gesetze f¨ ur Knoten und Maschen, bei der chemischen Reaktion ist das der Massenerhaltungssatz. 4

13 – 05

Die Prozeßvariablen x, u und p sind im einfachsten Fall Vektoren x = (x1 , . . . , xn )T , u = (u1 , . . . , um )T und p = (p1 , . . . , pl )T . Dann ist (1) ein (lineares oder nichtlineares) Gleichungssystem aus n Gleichungen F (x, u, p) = (Fi (x, u, p)) = 0, in denen neben den unbekannten Zust¨anden xi die einstellbaren Steuergr¨oßen uj und die f¨ ur einen konkreten Prozeß als fest anzusehenden Prozeßparameter pk auftreten. Generisch bilden die durch die zul¨assigen Steuerungen u ∈ U erreichbaren Zust¨ande Sp = { (x, u) : u ∈ U und F (x, u, p) = 0 },

p fest

(2)

eine Mannigfaltigkeit der Dimension m. Diese hat i.a. einen Rand, da die Zul¨assigkeitsbedingung u ∈ U meist Nebenbedingungen des Typs hµ (x, u) ≤ 0 enth¨alt, im einfachsten Fall 0 ≤ uµ ≤ u ¯µ mit einer oberen Schranke u ¯µ f¨ ur die Steuergr¨oße uµ . Die Prozeßvariablen k¨onnen aber auch – wie beim Metallstab oder der chemischen Reaktion – Funktionen der Zeit und/oder des Ortes sein. Dann ist (1) eine gew¨ohnliche oder partielle Differentialgleichung, die dann durch Anfangs- und/oder Randbedingungen geeignet komplettiert werden muß. Bei diskreten Prozessen ist die Zeit – h¨aufig auch die Zustands- und Steuergr¨oßen – diskret, etwa bei M -stufigen Entscheidungsprozessen. Statt Differentialgleichungen hat man dann Differenzengleichungen. Der Modellierung schließt sich als zweite Phase die mathematische Analyse der Modellgleichung (1) an. Dies ist – im Gegensatz zur Modellierung – eine Dom¨ane der Mathematiker. Typische Fragen sind dabei Existenz: F¨ ur welche Werte von u und p existieren L¨osungen x? Ist die L¨osung x eindeutig, oder k¨onnen zu einem u mehrere L¨osungen existieren? Stabilit¨ at: Sind die L¨osungen stabil oder instabil bez. der Steuergr¨oßen u, d.h., bewirken ¨ ¨ kleine Anderungen von u auch kleine Anderungen von x, oder k¨onnen sie große, u.U. ¨ sogar beliebig große Anderungen des Zustandes x bewirken? ¨ Beispiele f¨ ur Instabilit¨aten sind das Durchschlagen eines Tragwerkes bei Uberschreiten einer kritischen ¨außeren Last oder die Explosion eines Reaktors bei gewissen kritischen Steuerungen. Die Kenntnis dieser kritischen Werte ucrit ist offensichtlich von hoher praktischer Bedeutung. Wegen der Komplexit¨at der mathematischen Modelle sind hier ersch¨opfende Antworten nicht immer zu erwarten. Trotzdem wird der Anewandte Mathematiker auch dann zum n¨achsten Schritt – der Nutzung des Modells – u ¨bergehen, wenn z.B. noch nicht bewiesen werden kann, daß die gesuchten Gr¨oßen u ¨berhaupt existieren und welche Eigenschaften sie haben. Dies ist durchaus zul¨assig, denn im Gegensatz zur Reinen Mathematik existiert hier ja ein unterliegender realer Prozeß, u ¨ber den der Anwender, also der Physiker, Ingenieur usw., eine Menge weiß und den er auch beobachten kann, so daß die Praxis als Kriterium der Wahrheit, wie ein heute nicht mehr so gesch¨atzter Philosoph gesagt hat, als letzte Bewertungsinstanz bleibt. H¨atten die Ingenieure immer solange gewartet, bis die Mathematik ihre Modellgleichungen ersch¨opfend analysiert hat, k¨onnte heute niemand Auto fahren, fernsehen oder einen Computer nutzen. Allerdings meinte der erw¨ahnte Philosoph auch: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Man beachte die Einschr¨ankung gut – nat¨ urlich lassen sich aus einem unvollst¨andigen oder inad¨aquaten Modell keine vern¨ unftigen Schl¨ usse ziehen! Als dritte und eigentlich gew¨ unschte Phase schließt sich das Arbeiten mit der Modellgleichung (1) an. Im einfachsten Fall werden f¨ ur einzelne interessierende Steuerungen ui und die f¨ ur den Prozeß als bekannt vorausgesetzten Parameter p die zugeh¨origen L¨osungen x = x(ui , p) = xi , d.h. die zugeh¨origen Zust¨ande xi des Prozesses, berechnet: L¨ose

F (x, ui , p) = 0

f¨ ur gegebene ui und gegebenes p bez¨ uglich x = xi 5

(3)

13 – 06

Dies ist die Prozeßsimulation: Statt reale Experimente mit den Steuerungen ui durchzuf¨ uhren und die Zust¨ande xi zu beobachten, werden diese auf dem Computer aus der Modellgleichung berechnet. Man spricht daher auch von Computerexperimenten. Diese sind fast immer deutlich billiger als reale Experimente und in vielen F¨allen – speziell z.B. in der Entwicklungsphase von komplexen Systemen wie integrierten Schaltkreisen, Großraumflugzeugen, chemischen Reaktoren u.¨a. – die einzige M¨oglichkeit, unterschiedliche Steuergr¨oßen u bez. ihres Einflusses auf x zu untersuchen im Sinne eines Variantenvergleichs. Insbesondere kann damit auch das Verhalten des Prozesses in der Umgebung kritischer Zust¨ande beschrieben werden, was durch Experimente nur in beschr¨ankter Anzahl m¨oglich ist bzw. tunlichst unterlassen werden sollte – denken Sie an Tschernobyl! Der n¨achste Schritt ist dann die zielgerichtete Prozeßoptimierung. Die Steuergr¨oßen u sind aus einer vorgegebenen Menge U zul¨assiger Steuerungen so zu w¨ahlen, daß ein Zielfunktional Φ(x, u, p) minimal (oder maximal) wird unter den Nebenbedingungen u ∈ U und F (x, u, p) = 0. Man hat also das Optimierungs- bzw. Steuerproblem min {Φ(x, u, p) : u ∈ U und F (x, u, p) = 0 }

(4)

zu l¨osen. Schließlich kann es vorkommen, daß die Parameter p des konkreten Prozesses nicht bekannt sind und aus M i.a. fehlerbehafteten Beobachtungen x ˜i = xi + εi (i = 1, . . . , M ) der Zustandsgr¨oßen, die zu eingestellten Steuerungen ui geh¨oren und aus realen Experimenten stammen, bestimmt werden m¨ ussen. Dies f¨ uhrt z.B. auf das Problem min

nP M i

kxi − x ˜i k2 : p und xi so, daß F (xi , ui , p) = 0

(i = 1, . . . , M )

o

(5)

Man spricht dann von Parametersch¨ atzung oder Prozeßidentifikation. Hier handelt es sich um ein inverses Problem: Aus Beobachtungen der Zustandsgr¨oßen ist auf die Parameter zu schließen. Dagegen ist die Prozeßsimulation ein direktes Problem: Bei gegebener Steuerung u und gegebenen Parametern p ist der Zustand x zu bestimmen. In allen drei Problemklassen – Prozeßsimulation (3), Prozeßoptimierung (4) und Parametersch¨atzung (5)– ben¨otigt man Algorithmen, welche die Berechnung der gesuchten Gr¨oßen aus den Prozeßdaten unter Verwendung der Modellgleichung (1) erlauben. Dies ist die Dom¨ane der Numerischen Mathematik als einer Schl¨ usseldisziplin der Angewandten Mathematik. Ihr Gegenstand sind Entwicklung, theoretische Analyse, praktische Erprobung und Implementierung von Algorithmen. Diese Algorithmen und die auf ihnen beruhende Software liefern dann bei der Realisierung auf dem Computer die gew¨ unschten Gr¨oßen. Eine wesentliche Rolle kommt dabei der sachgem¨aße Visualisierung zu: Wird etwa die Spannungsverteilung in einer Kurbelwelle berechnet, ergeben sich Millionen von diskreten Daten, die das Spannungsfeld beschreiben, und diese sind in ihrer Prim¨arform durch den Menschen nicht erfaßbar. In einem Postprocessing m¨ ussen die L¨osungsdaten durch Visualisierung aufbereitet werden, damit sich die Bearbeiter ein Bild machen k¨ onnen. Wir bemerken abschließend, daß der skizzierte Zyklus in der Regel nicht nur einmal durchlaufen wird. Fast immer entsprechen die ersten berechneten Ergebnisse nicht den Erwartungen, besonders bei den schwierigeren nichtlinearen Modellgleichungen und inversen Aufgaben. Dann muß iteriert, d.h. zu zur¨ uckliegenden Phasen wie Modellierung, Algorithmierung usw. zur¨ uckgegangen werden. Gegebenfalls sind zur besseren Prozeßidentifikation auch neue (i.a. teure) reale Experimente erforderlich bis – hoffentlich – irgendwann der gew¨ unschte, durch Mathematik erzielbare Nutzen erreicht wird. Diesen hat der franz¨osische Angewandte Mathematiker J. L. Lions auf einem Industriemathematik-Kongreß 1994 in Neapel wie folgt2 charakterisiert: 2

zitiert nach [7]

6

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Der Nutzen der Mathematik ist es, dabei zu helfen, Dinge besser, schneller, billiger und sicherer zu machen, und zwar durch Simulation komplizierter Ph¨ anomene, Visualisierung und Reduktion der Datenfluten. Der oben skizzierte Zyklus von der Modellierung eines realen Prozesses bis hin zur L¨osung der abgeleiteten mathematischen Aufgaben mittels des Computers ist Gegenstand des jungen interdisziplin¨aren Gebietes Wissenschaftliches Rechnen (englisch: Scientific Computing). Um diesen Zyklus umzusetzen, braucht man • Modellierung: Natur-, Ingenieur- und andere betroffene Wissenschaften, Angewandte Mathematik • Theoretische Analyse der Modellgleichungen: Analysis, Stochastik, Geometrie, . . . • Algorithmen: Numerische Mathematik, Optimierung, optimale Steuerung, . . . • Software: Numerische Mathematik, Informatik, Ingenieurwissenschaften, . . . • Computer: PCs, Workstations, . . . , Supercomputer • Datennetze: Austausch von Informationen, Software und Rechnerleistung

3

Ein Beispiel: Diffusion in einem du ¨ nnen Kanal

Im folgenden m¨ochte ich das beschriebene Vorgehen an einem einfachen Beispiel3 demonstrieren: Wir betrachten einen mit Fl¨ ussigkeit gef¨ ullten d¨ unnen Kanal der L¨ange 1, in dem ein Stoff – stellen Sie sich der Einfachheit halber blaue Tinte vor – mit einer vom Ort x abh¨angigen Anfangskonzentration eingebracht wird. Zum Beispiel kann die Konzentration durch Einbringen von Schiebern st¨ uckweise konstant vorgegeben werden, also auch unstetig bez. x sein. Zur Modellierung f¨ uhren wir die Gr¨oßen u(x, t) ∆M (x, t)

Konzentration am Ort x zur Zeit t Stoffmenge, die am Ort x zur Zeit t im Zeitraum ∆t nach rechts diffundiert

ein, vgl. nachfolgendes Bild. 0

x

x + ∆x

1 -

∆M (x, t) -

- ∆M (x + ∆x, t)

Der Zusammenhang zwischen u und ∆M wird nun durch das Ficksche Gesetz beschrieben: 

∆M (x, t) = −D F

u(x + ∆x, t) − u(x, t) ∆t ∆x



(6)

Dabei ist F der Querschnitt des Kanals und D die vom Stoff und der Fl¨ ussigkeit abh¨angende sog. Diffusionskonstante, also ein Parameter im Sinne von Abschnitt 2. Das Ficksche Gesetz besagt: Die diffundierende Stoffmenge ∆M (x, t) ist proportional zur Querschnittsfl¨ ache F , zum Konzentrationsgef¨ alle u(x + ∆x, t) − u(x, t) zwischen x + ∆x und x sowie zur Zeitspanne ∆t, und der Proportionalit¨ atsfaktor ist die Diffusionskonstante D. 3 Die im Vortrag dazu gezeigten Computervorf¨ uhrungen lassen sich naturgem¨ aß nicht in dieser Ausarbeitung reproduzieren

7

13 – 08

Beziehungen wie (6) zwischen abh¨angigen Zustandsgr¨oßen bezeichnet man als ph¨ anomenologische Gleichungen. Sie werden durch Erfahrung gewonnen oder aus einer “h¨oheren”, z.B. mikroskopischen Theorie abgeleitet. Ein bekanntes anderes Beispiel daf¨ ur ist das Ohmsche Gesetz U = RI, das unter gewissen Voraussetzungen den Zusammenhang zwischen Strom und Spannung an einem Widerstand angibt. Auch in unserem Fall m¨ ußten die Voraussetzungen, unter denen (6) gilt, untersucht werden; wir gehen darauf nicht weiter ein. Die Stoffbilanz f¨ ur die Elementarzelle zwischen x + ∆x und x im Zeitraum ∆t als unterliegender Erhaltungssatz liefert dann − [∆M (x + ∆x, t) − ∆M (x, t)] = [u(x, t + ∆t) − u(x, t)] × [F ∆x] |

{z

Stof f a ¨nderung

}

|

{z

¨ Konzentr.−Anderung

}

| {z }

Elem.V ol.

Einsetzen von ∆M aus (6), Umordnen und Grenz¨ ubergang ∆x → 0, ∆t → 0 liefert dann nach elementarer Rechnung die Diffusionsgleichung ∂2u ∂u =D ∂t ∂x2

(7)

als partielle lineare parabolische Differentialgleichung f¨ ur die gesuchte Funktion u(x, t). Zur Zeit t = 0 sind die Anfangsbedingungen u(x, 0) = u0 (x)

f¨ ur alle

0≤x≤1

(8)

mit der bekannten Anfangskonzentrationsverteilung u0 (x) zu erf¨ ullen. An den beiden R¨andern x = 0 und x = 1 sind außerdem Randbedingungen vorzugeben: Wenn der Kanal dort abgeschlossen ist, kann sich die Konzentration an diesen Stellen bez. der Ortskoordinate x nicht ¨andern, so daß wir die beiden Randbedingungen ∂u(0, t) = 0, ∂x

∂u(1, t) =0 ∂x

f¨ ur alle

0≤t≤T

(9)

erhalten. Diese einfache Anfangs-Randwertaufgabe (7,8,9) kann u ¨brigens durch einen Separationsansatz gel¨ost werden; sie ist insofern nicht typisch f¨ ur ein realistisches Praxisproblem. Modellverfeinerungen wie etwa Abh¨angigkeit der Diffusionskonstanten von der Konzentration, also D = D(u), f¨ uhren jedoch sofort auf eine nichtlineare, nicht formelm¨aßig l¨osbare Aufgabe. Zur numerischen L¨ osung betrachten wir die Funktion u nur an den Gitterpunkten (xi , tj ) eines durch xi = i ∆x (i = 0, . . . , N, ∆x = 1/N ),

tj = j ∆t

(j = 0, 1, . . . , J),

festgelegten Rechteckgitters u ¨ber dem Bereich {(x, t) : 0 ≤ x ≤ 1, 0 ≤ t ≤ T = J∆t} mit den Diskretisierungsschrittweiten ∆x = xi+1 − xi > 0 und ∆t = tj+1 − tj > 0. Unser Ziel ist, Approximationen Uij ≈ u(xi , tj ) f¨ ur die Funktionswerte an den Gitterpunkten zu bestimmen. Dazu schreiben wir die Diffusionsgleichung an den Gitterpunkten hin und ersetzen die partiellen Ableitungen durch die nachfolgend angegebenen Differenzenquotienten: ∂u(xi , tj ) ∂t



u(xi , tj+1 ) − u(xi , tj ) ∆t

(10)

∂ 2 u(xi , tj ) ∂x2



u(xi−1 , tj ) − 2 u(xi , tj ) + u(xi+1 , tj ) ∆x2

(11)

8

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Einsetzen in die Diffusionsgleichung liefert dann die Differenzengleichungen j U j − 2Uij + Ui−1 Uij+1 − Uij = D i−1 ∆t ∆x2

bzw.

i ∆t h j j j U − 2U + U i−1 i i−1 ∆x2} | {z

Uij+1 − Uij = D

(12)

=:κ

In diesen Gleichungen kommen die U -Werte an den folgenden Gitterpunkten vor: u

tj+1 u

tj

u

xi−1

xi

u

xi+1

Aufl¨osen nach Uij+1 f¨ uhrt auf das explizite Differenzenverfahren j j Uij+1 = κ Ui−1 + (1 − 2κ) Uij + κ Ui−1 ,

(13)

mit dem die Uij von der Zeitschicht tj zur n¨achsten Schicht tj+1 nacheinander – mit der Anfangsverteilung f¨ ur t0 = 0 beginnend – berechnet werden k¨onnen. Ein Computerlauf mit der naheliegenden Festlegung ∆t = ∆x f¨ uhrt allerdings zu katastrophalen Ergebnissen: Die Approximationen oszillieren extrem und nehmen auch sehr stark negative Werte an, was aus physikalischen Gr¨ unden Unsinn ist. Die Ursache f¨ ur dieses Verhalten liegt im Koeffizienten α := 1 − 2κ der Differenzengleichung (13), der im Fall ∆t = ∆x den Wert α = 1 − 2D/∆t hat, also f¨ ur ∆t < 2D negativ ist. Dies tritt im Fall κ ≤ 1/2,

∆t ≤

also

1 ∆x2 2 D

nicht ein. Man kann zeigen, daß das explizite Differenzenverfahren f¨ ur solche Schrittweiten stabil und konvergent ist. Die obige Stabilit¨atsbedingung erzwingt allerdings eine sehr feine Zeitdiskretisierung, die viele Zeitschritte erfordert und die Einfachheit des Verfahrens wieder zunichte macht. Als Alternative nehmen wir nun R¨ uckw¨ artsdifferenzen ∂u(xi , tj ) u(xi , tj ) − u(xi , tj−1 ) ≈ ∂t ∆t zur Approximation der Zeitableitungen. Dies f¨ uhrt auf die Differenzengleichungen j j Ui−1 − 2Uij + Ui−1 Uij − Uij−1 =D . ∆t ∆x2

Die hier beteiligten Gitterpunkte sind durch tj+1

u

u

u

u

tj xi−1

xi 9

xi+1

(14)

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gegeben. Umordnen nach dem Zeitindex j f¨ uhrt auf j+1 j+1 κ Ui−1 + (1 − 2κ) Uij+1 + κ Ui−1 = Uij .

(15)

j+1 Dies ist ein implizites Differenzenverfahren, weil in (15) statt einem drei neue Werte Ui−1 , j+1 j+1 Ui und Ui−1 auf der Zeitschicht tj+1 auftreten, also pro Schritt tj → tj+1 ein tridiagonales lineares Gleichungssystem zu l¨osen ist. Dies ist teurer als die Berechnung der Uij+1 nach (13). Daf¨ ur ist dieses Verfahren stabil f¨ ur alle κ ≥ 0, d.h., f¨ ur beliebige Schrittweiten ∆x und ∆t. Die Computerrealisierung zeigt, daß damit auch mit gr¨oßeren Zeitschrittweiten ∆t gute Approximationen – und zwar insgesamt billiger – gefunden werden k¨onnen. Wir sehen: Nicht nur schlechte Modellierung, sondern auch instabile Algorithmen k¨onnen zu unbrauchbaren Ergebnissen f¨ uhren. Bei realistischen Problemen – etwa der Schadstoffausbreitung in der Athmosph¨are – treten statt einer mehrere Substanzen auf, und statt einer hat man drei Ortskoordinaten. Die Stoffe reagieren chemisch miteinander, so daß die einzelnen Gleichungen u ¨ber nichtlineare Reaktionsterme gekoppelt werden, und außer Diffusion tr¨agt auch Konvektion zur Ausbreitung bei. Allein durch diese offensichtlichen Erweiterungen kommt man zu 3DSystemen von gekoppelten nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen, deren L¨osung schon eine Herausforderung darstellt.

4

High Tech = Math Tech

Das in den vorangegangenen Abschnitten skizzierte Vorgehen bei der Anwendung von Mathematik ist keineswegs neu, auch z.B. die Br¨ uder Bernoulli haben das im 17./18. Jahrhundert im Prinzip so gemacht. Was die heutige Angewandte Mathematik auszeichnet, ist der inzwischen enorm gewachsene Bestand an numerischen Techniken – mir fallen etwa Splines und Wavelets zur Approximation, Finite Elemente und Mehrgittermethoden zur L¨osung von partiellen Differentialgleichungen, Kurvenverfolgungsalgorithmen zur Berechnung von L¨osungsmengen nichtlinearer Gleichungssysteme und eingebettete Mehrzielmethoden f¨ ur Probleme der optimalen Steuerung ein – sowie die ungeheuer gestiegene Leistungsf¨ahigkeit der Computer, deren Entwicklungstempo keine historischen Vergleiche kennt. Diese Kombination, die sich in wechselseitigem Ansporn vervollkommnet hat, f¨ uhrte dazu, daß heute sehr viele Bereiche der Gesellschaft mathematisiert und computerisiert sind – man beachte, daß die Mathematisierung Voraussetzung f¨ ur die Computerisierung ist! Als Beispiele seien erw¨ahnt • Simulation, Design, Optimierung und Steuerung chemischer, biotechnologischer und nuklearer Reaktoren • Modellierung der inneren Elektronik von Halbleitern (Feldberechnungen u ¨ber nichtlineare partielle Differentialgleichungen) • Modellierung des Zeitverhaltens h¨ ochstintegrierter elektronischer Schaltkreise (Systeme nichtlinearer Algebro-Differentialgleichungen extrem hoher Dimension) • Layout solcher Chips (optimale Anordnungen auf der Silizium- oder GalliumarsenidScheibe, diskrete Optimierungsprobleme mit wieder hunderttausenden Variablen und Nebenbedingungen) • Steuerung und Optimierung von Raumflugk¨ orpern (optimale Steuerung mit Systemen stark nichtlienarer gew¨ ohnlicher Differentialgleichungen als Nebenbedingungen) 10

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• Entwurf, Simulation und Optimierung von Flugzeugen, Hochgeschwindigkeitsz¨ ugen, Kraftfahrzeugen, . . . (Entwurf mittels Computer Aided Geometric Design (CAGD), Kr¨ afteberechnungen mittels Finiter Elemente, Analyse des dynamischen Verhaltens u orpersysteme und daraus folgende Al¨ber Finite Elemente bzw. zugeordnete Mehrk¨ gebro-Differentialgleichungen) • Berechnung von Bauwerken (Br¨ ucken, Hochh¨ auser, Fernseht¨ urme, Kuppel der Frauenkirche ,. . . ) • Ausbreitung von Grundwasser, Schadstoffen, ... (Konvektions-Diffusions-Reaktionsgleichungen) • Erkundung von Erd¨ ol- und Erdgaslagerst¨ atten (inverse Probleme bei partiellen Differentialgleichungen) • Computer- und Kernspintomographie (inverse Probleme bei der Radon-Transformation) • Signalverarbeitung, insbesondere digitale Ton- und Bildverarbeitung (schnelle Tranformationen) • Entwurf von zuverl¨ assigen Kommunikationssystemen (Diskrete Optimierung mit vielen Unbekannten) • Produktionsplanung und -steuerung (Diskrete Optimierungs- und Entscheidungsprozesse, meist sehr komplex und np hard) • Langzeitverhalten komplexer Systeme wie Klima, Volkswirtschaften, Populationen u.¨ a.) • Ausbreitung von Krankheiten wie Grippe, Hepatitis, HIV u.a. (dynamische Systeme) • Modellierung der Funktion des Nervensystems (z.B. mittels neuronaler Netze) Diese Aufz¨ahlung k¨onnte weiter fortgesetzt werden, aber wir sehen bereits jetzt, daß fast alles, was unter High Tech verstanden wird, direkt und unmittelbar auf moderner Angewandter Mathematik und Computern beruht. Insofern ist die erstmals im sog. David-Report [4] aufgestellte Behauptung

High Tech = Math Tech ¨ durchaus richtig. Bedauerlich ist, daß die Offentlichkeit und die heute so einflußreichen Medien das kaum zur Kenntnis genommen haben und einen urs¨achlichen Zusammenhang zwischen High Tech und Mathematik u ¨berhaupt nicht erkennen. Daran haben auch die Mathematiker, die sich dort engagieren, eine gewisse Schuld, weil die meisten den Weg ¨ in die Offentlichkeit auf Grund einer offenbar unausrottbaren Konservativit¨at in dieser Hinsicht nicht zu gehen bereit sind. Hier sind dringend Aktivit¨aten gefragt.

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Folgerungen fu ¨ r die Mathematikausbildung

Gef¨ahrlich ist, daß die oben beschriebenen Entwicklungen in der schulischen, aber auch der universit¨aren Mathematikausbildung in der Regel nur ungen¨ ugend ber¨ ucksichtigt werden. Positiv ist hier die Installation von anwendungsorientierten mathematischen Studieng¨angen wie Techno- und Wirtschaftsmathematik zu nennen. Die Ausbildung in Angewandter Mathematik ist jedoch mit dem klassischen und unter Mathematikprofessoren und -lehrern beliebten Frontalunterricht, bei dem der Professor vortr¨agt und die Stu¨ denten zuh¨oren und mehr oder weniger akademische Ubungsaufgaben rechnen, nicht zu 11

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schaffen. Hier braucht man selbst¨andigere, aktive und motivierende Studienformen wie Modellierungsseminare, Projektarbeiten, Computerpraktika u.¨a. Solche Lehrveranstaltungen sind wesentlich aufwendiger als die klassischen – nicht nur f¨ ur die Studierenden und Sch¨ uler, sondern auch f¨ ur Professoren und Lehrer. In einer Zeit der Stellenstreichungen und Etatk¨ urzungen bestehen daf¨ ur keine guten Voraussetzungen. Es kommt auch darauf an, aus der in den letzten Jahren in erschreckender Weise gefallenen, jetzt gl¨ ucklicherweise wieder ansteigenden Zahl von Abiturienten mit ausgepr¨agten mathematischen, natur- und ingenieurwissenschaftlichen Interessen einen angemessenen Anteil f¨ ur die Mathematik zu gewinnen – f¨ ur den Einsatz in Universit¨aten, in allgemeinbildenden Schulen und in den immer attraktiver werdenden Anwendungsgebieten, die die erstgenannten klassischen Einsatzgebiete inzwischen hinsichtlich Arbeitsbedingungen und Gehalt deutlich u undliche Analyse der Situation der Industiemathema¨bertreffen. Eine gr¨ tik in den USA und Folgerungen f¨ ur die universit¨are Ausbildung enth¨alt der SIAM-Report Mathematics in Industry [8]. Auch L. A. Steen [9] hat sich mit solchen Ausbildungfragen besch¨aftigt. Aus Zeitgr¨ unden muß ich auf die zitierte Literatur verweisen und m¨ochte lediglich zwei Forderungen Steens zitieren: • The most important task for post-secondary mathematics is to make it attraktive as a subject of study for students with a wide variety of interests. • Display the power of mathematics not only through its logic but also through the enormeous variety of its applications. Das gilt genauso f¨ ur die Schulen. Bei diesen gibt es allerdings zwei ernstzunehmende Probleme: • Viele Lehrer haben die beschriebene Entwicklung auch nicht zur Kenntnis genommen und/oder verf¨ ugen nicht u ¨ber ausreichende Kenntnisse in den dazu ben¨otigten Gebieten der Mathematik. Daß sich dies auch nicht bald ¨andern wird, k¨onnen Sie z.B. voraussagen, wenn sie sich die Liste der den Lehrerstudenten in Dresden empfohlenen Lehrveranstaltungen unten im C-Fl¨ ugel ansehen. An anderen Orten ist das nach meiner Erfahrung auch nicht viel anders. • Ein wesentlicher Gegenstand der modernen Angewandten Mathematik sind evolution¨are, d.h. zeitabh¨angige Prozesse mit stetiger Zeit, die durch Differentialgleichungen beschrieben werden. Diese werden aber selbst in Leistungskurven der Gymnasien in der Regel nicht behandelt, so daß die Grundlagen f¨ ur entprechende Aktivit¨aten fehlen. Die zust¨andigen Stellen sollten u ¨berlegen, ob diesem unbefriedigenden Zustand – schließlich gehen manche Stochastik-Leistungskurse bis zum Testen von Hypothesen – nicht durch Aufnahme von Differentialgleichungen erster und zweiter Ordnung mit konstanten Koeffizeinten und Anwendungen abgeholfen werden k¨onnte. In 30 Minuten ließe sich auch das Eulersche Polygonzugverfahren zur gen¨aherten L¨osung nichtlinearer Differentialgleichungen erster Ordnung erkl¨aren, wodurch in Verbindung mit den bei den Gymnasiasten vorhandenen graphikf¨ahigen programmierbaren Taschenrechnern die T¨ ur zu interessanten und motivierenden Anwendungen ge¨offnet w¨ urde. Ich m¨ochte meinen Vortrag mit zwei klassischen Zitaten abschließen. Das erste ist dem bereits erw¨ahnten Vortrag [7] von Helmut Neunzert – dem Pionier der Technomathematik – entlehnt und geht auf den ¨osterreichischen Physiker Christian Doppler (1803–1853) zur¨ uck: 12

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Die lohnendsten Forschungen sind diejenigen, welche, indem sie den Denker erfreun, zugleich der Menschheit n¨utzen. Mit dem zweiten schließt der Vortrag [5] von Peter Henrici, es stammt vom englischen Biologen Thomas H. Huxley4 (1825–1895), einem Anh¨anger Darwins:

The great end of life is not knowledge, but action.

Literatur [1] A . Alexandrov, Mathematik und Dialektik, Ideen des exakten Wissens 4 (1971), 251– 257. [2] Der Brockhaus in drei B¨ anden. 2., neu bearb. Aufl., F. A. Brockhaus, Leipzig–Mannheim, 1995. [3] R. Bulirsch, Mathematik in der Hochtechnologie, TUM. Mitteilungen der Technischen Universit¨at M¨ unchen f¨ ur Studierende, Mitarbeiter, Freunde 3 (1988/89), 4–9. [4] E. E. David et al., Renewing U.S. Mathematics: Critical Resources for the Future, National Academy Press, Washington, D.C., 1984. [5] P. Henrici, Computational Complex Analysis, Lecture at the Conference on the Influence of Computing on Mathematical Research and Education, Missoula (Montana, USA), 1973. [6] Meyers Universal-Lexikon (in vier B¨ anden). Durchges. Nachdruck der 2. Aufl. 1979, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1980. [7] H. Neunzert, Vom Nutzen der Mathematik, Vortrag auf der DMV-Tagung, Duisburg, 1994. [8] The SIAM Report on Mathematics in Industry, SIAM Philadelphia, 1995 (abrufbar via Internet von http://www.siam.org/). [9] L. A. Steen, Mathematics for a New Century, Notices of the AMS 36 (1989), no. 2, 133–138.

4 nicht zu verwechseln mit dem Schriftsteller – heute w¨ urde man auch Zukunftsforscher sagen – Aldous Huxley

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