Verlag Turia + KanT. Wien – Berlin. P A U L - C L A U D E R A C A m I E R. DER
INZEST. UND DAS INZESTUELLE. Aus dem Französischen von Erwin und ...
P aul - C laude R aca m ier
DER INZEST UND DAS INZESTUELLE Aus dem Französischen von Erwin und Joëlle Landrichter
V e r l a g T u r i a + K a n t W i e n – B e r l i n
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Bibliographic Information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the internet at http://dnb.ddb.de. © »L’inceste et l’incestuel« erschien in der Éditions Dunod 2010. ISBN 978-3-85132-655-0 Covergestaltung: Bettina Kubanek unter Verwendung des Gemäldes A Young Girl Defending Herself Against Eros von William-Adolphe Bouguereau (1825–1905) © Turia + Kant, 2012 Verlag Turia + Kant A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1 D-10827 Berlin, Crellestraße 14 / Remise
[email protected] | www.turia.at
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
ERSTER TEIL – ANNÄHERUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Kapitel 1 Bei der narzisstischen Verführung beginnend . . . 27 Kapitel 2 Ödipus und Antœdip: eine Gegenüberstellung . . . 45
ZWEITER TEIL – KREISE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Kapitel 3 Der Inzest und seine Gewalttätigkeiten . . . . . . . . 69 Kapitel 4 Das Inzestuelle und seine Umwege . . . . . . . . . . . 77 Kapitel 5 Die Inzestualität und wie sie sich verteidigt . . . . . 99 Zwei Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
DRITTER TEIL – OBJEKTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Kapitel 6 Inzestäquivalente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Kapitel 7 Geheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
VIERTER TEIL – ABLEITUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Kapitel 8 Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Kapitel 9 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Finale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Bibliographischer Führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
VORWORT
Inzest ist à la mode und das ist nicht gerade das Beste an ihm. Was das »Inzestuelle« betrifft, so ist es neu. Neu ist der Begriff, neu der Terminus. Nun liegt es an den Lesern, für sie neue, vielleicht noch unbekannte Horizonte zu entdecken. Und das hat seinen Grund: gewöhnlich weiß man vom Inzest, dass das eine sexuelle Ungeheuerlichkeit ist, die auf der Bühne der Familie ihr Unwesen treibt. War dieser unter einer erstickenden Decke des Verschweigens lange Zeit verdrängt, so wird der Inzest heutzutage entlarvt, manchmal sogar zur Schau gestellt, jedoch immer noch schlecht verstanden; oder er ist, wie für den Psychoanalytiker, überhaupt nur ein Fantasieprodukt, der einzig auf der Bühne des Unbewussten existiert. Dort nimmt er zwar einen hervorragenden Platz ein, allerdings den eines Fantasmas. Zwischen diesen beiden Interpretationsschienen wäre nur Wüste, gäbe es nicht das Inzestuelle: das liegt nicht in einem versteckten Winkel der Psychopathologie, ist auch kein bloßes Anhängsel der Psychoanalyse, sondern hat in einem breiten Blickfeld sein ganz spezifisches Spektrum mit tief in die Abgründe der Geheimnisse von Individuen und Familien reichenden Wurzeln, erstaunlich hochkommenden Wurzeltrieben, mit unnachahmlichen Gerüchen. Es ist dieses seltsame und doch lokalisierbare Spektrum, das wir uns genauer ansehen werden. Leicht ist dieser Begriff jedoch nicht zu gebrauchen. Denn rund um den Inzest schwebt weiterhin ein schwefeliger Geruch höllischer Ausdünstung. Er stört immer noch. Er erschreckt. Er fasziniert. Ob man ihn nun verschweigt oder im Gegenteil zur Mode macht (eine andere Art, ihn unsichtbar zu machen…), er bleibt was er ist: ein Gedankenkiller, der Lüste zum Erstarren bringt. Ein Grund mehr, ihn genauer zu untersuchen. Man weiß doch sicherlich: ich bin nicht gewohnt, vor dem Abenteuer zu
kneifen, mich Clichés zu unterwerfen oder mich Moden zu beugen. Es missfällt mir nicht, vorwärts zu gehen. Sogar voranzugehen … Dass der Inzest, wenn näher betrachtet, uns verblüfft, kann nicht geleugnet werden. Er erleuchtet, aber er blendet. Welch ein Kurzschluss! Ist er das Ergebnis einer Wahnvorstellung? Im Gegenteil, er bringt die Fantasmen zu einem Ende. Ein Meisterwerk der Familien? Im Gegenteil, er bedeutet ihren Zusammenbruch. Ein Höhepunkt des Sexuellen? Nichts ist lustfeindlicher. Das engste Band, das der Inzest kennt, ist nicht das des Lebens, es ist das des Todes. Damit kontrastierend, erteilt er uns, so meine ich, eine recht ansehnliche Lektion über das psychische Leben. Aber der Inzest passiert nicht nur im Akt. Über seine bekannte Erscheinungsform hinaus stößt er mit seinen Wurzeln tief ins psychische Gewebe. Über die Individuen hinaus, und bereits vor diesen, breitet er sich über die Familien aus. Genau dies ist der Bereich des Inzestuellen, dessen klinische Auswirkungen weit über bisher Bekanntes spürbar sind. Dieses lange Zeit nicht erahnte, dann viel zu lange gefürchtete Territorium, endlich bereit sich uns aufzuschließen, ich lade den Leser ein, es mit mir zu erkunden. Sicherlich, die Erschließung wird unvollständig sein: es wird an ihm/ an ihr liegen, sie fortzuführen. Zweifellos wird es nicht immer erfreulich sein, und so lasst uns nicht den Faden aus dem Auge verlieren, der uns mit den wesentlichen Quellen des Lebens verbindet: jenen des Denkens und der Libido.