den beiden Teilen seiner indischen Dichtung Siddhartha veranlassen Hesse ...
Hermann Hesse läßt sich nur schwer oder gar nicht in eine literarhistorische ...
HERMANN HESSE DEUTSCH – SPEZIALTHEMENBEREICH 2001 im Rahmen der mündlichen Matura an der Theresianischen Akademie Wien Ausgearbeitet von: Niku Dorostkar
INHALTSVERZEICHNIS
Biographie
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Werke
Seite 6
Literarhistorische Einordnung
Seite 7
Weltweite Wirkung
Seite 8
Autobiographische Zusammenhänge
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Kindheit und Erziehung
Seite 11
C.G. Jung und Individuation
Seite 13
Dichotomie und Zwiespalt
Seite 17
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BIOGRAPHIE
1877
Hesse wird am 2. Juli in Calw/Württemberg als Sohn eines baltischen Missionars aus Estland und der Tochter eines namhaften Indologen (Hermann Gundert) geboren. Hesses Mutter, die ihre Kindheit in Indien verbracht hat, vermittelt gemeinsam mit ihrem Mann dem jungen Hesse die indische Kultur.
1881 - 1886 Hesse wohnt mit seinen Eltern in Basel, wo der Vater die Schweizer Staatsbürgerschaft erwirbt (zuvor: russische Staatsbürgerschaft). 1886 - 1889 Die Familie kehrt im Juli zurück nach Calw, wo Hesse das Reallyzeum besucht. 1890 - 1891 Hesse besucht die Lateinschule in Göppingen zur Vorbereitung auf das Württembergische Landexamen, der Voraussetzung für eine kostenlose Ausbildung zum ev. Theologen im Tübinger Stift. Als staatlicher Schüler muß Hesse auf seine Schweizer Staatsbürgerschaft verzichten, sein Vater besorgt ihm die württembergische. 1890 -1891
Nachdem Hesse das Examen bestanden hat, kommt er in das ev. Klosterseminar Maulbronn, aus dem er nach 7 Monaten flieht, weil er „entweder Dichter oder gar nichts werden möchte.“ Für den jungen Hesse, der in der Kindheit phantasiereich und energisch gewesen ist, wird die Schule eine feindliche Macht, gegen die er anzukämpfen beginnt (erste Gedichte entstehen). Sein Vater holt ihn nach Hause, nachdem seine Depressionen nach seinem Fluchtversuch nicht besser werden.
1892
Nach einem Selbstmordversuch und einem Aufenthalt in der Nervenheilanstalt Stetten wird Hesse in das Gymnasium von Cannstatt aufgenommen (1893: Absolvierung der Obersekundareife). Hesse hat mit schweren seelischen Konflikten zu kämpfen (Nervenkrisen). Er versucht, sich selbst und sein Dichtertum gegen die starren religiösen Traditionen seiner Familie zu behaupten.
1893
Im Oktober verläßt Hesse das Gymnasium und beginnt eine Buchhändlerlehre in Esslingen, die er aber bereits nach drei Tagen aufgibt.
1894 - 1895 Hesse arbeitet 15 Monate als Praktikant in der Calwer Turmuhrenfabrik und plant, nach Brasilien auszuwandern. 1895 - 1898 In Tübingen macht Hesse zum zweiten mal eine Buchhändlerlehre. Diese Zeit stellt für ihn eine Art Selbsterziehung dar: Er vertieft sich in die Welt der Bücher, ersetzt Freunde und Gesellschaft durch Dichtungen. Während Hesse scheinbar immer mehr den Bezug zur Realität verliert, beginnt langsam seine Schriftstellerkarriere. 1899
Hesse zieht nach Basel um. Er wird selbstsicherer, für ihn beginnt ein neuer Bezug zur Wirklichkeit. Politik interessiert ihn aber nicht, seine Hauptanliegen sind in der Kunst, Natur und Kultur zu finden.
1900
Hesse beginnt für die Allgemeine Schweizer Zeitung Artikel zu schreiben, die ihm mehr als seine Bücher zu einem gewissen Bekanntheitsgrad verhelfen.
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1901
Seine erstmalige Reise nach Italien inspiriert ihn zur leidenschaftlichen Selbsterforschung und zu neuer künstlerischer Schaffenskraft. Kontakte zu zeitgenössischen Schriftstellern interessieren ihn jedoch nicht, seine Vorbilder bleiben die Dichter der deutschen Romantik.
1902
Ein Band Gedichte erscheint in Berlin, das seiner Mutter gewidmet ist, die kurz vor Erscheinen des Bändchens stirbt.
1903
Nach Aufgabe der Buchhändler- und Antiquariatsstellung reist Hesse das zweite Mal nach Italien, gemeinsam mit Maria Bernoulli, mit der er sich verlobt. Kurz davor schließt Hesse die Niederschrift seines Camenzind-Manuskripts ab, das er auf Einladung des S. Fischer Verlags nach Berlin sendet. Unterm Rad entsteht.
1904
Hesse heiratet Maria Bernoulli, die ihm drei Söhne schenken wird und zieht nach Gaienhofen am Bodensee. Peter Camenzind, Hesses erster großer Roman erscheint bei S. Fischer, Berlin. Hesse überwindet durch Peter Camenzind die Trauer um seine Mutter – die Thematik der Persönlichkeitsfindung des nicht normierten Individuums entsteht, der roten Faden, der sich durch das gesamte Werk Hesses zieht, nimmt seinen Anfang.
1906
Unterm Rad erscheint bei S. Fischer in Berlin. Hesse arbeitet in seiner Schülergeschichte die Erlebnisse seiner Jugend auf. Außerdem beeinflußt er das literarische Leben maßgeblich, indem er herausragende Literaturkritiken veröffentlicht und Beiträge für die liberale Zeitschrift März liefert.
1911
Hesse fährt für vier Monate nach Indien, nachdem ihm seine Existenz in Gaienhof mit seiner Familie immer fremder wird. Die erhoffte befreiende Begegnung mit dem wahren Indien findet jedoch nicht statt.
1912
Hesse verläßt Deutschland für immer und zieht mit seiner Familie nach Bern.
1914
Bei Beginn des Ersten Weltkrieges meldet sich Hesse freiwillig, wird aber als dienstuntauglich zurückgestellt und 1915 der Deutschen Gefangenenfüsorge in Bern zugeteilt. Er versorgt bis 1919 Hundertausende Gefangene in England, Frankreich, Rußland und Italien mit Lektüre und gibt Gefangenenzeitschriften heraus. Da sich Hesse als einer der ersten deutschen Schriftsteller gegen den Krieg stellt, kommen ihm Haß und Unverständnis entgegen.
1916
Tod des Vaters, beginnende Schizophrenie seiner Frau und Erkrankung des jüngsten Sohnes führen zu einem Nervenzusammenbruch Hesses. Hesse nimmt erstmals psychotherapeutische Behandlung durch einen Schüler C.G. Jungs in Anspruch. Seine neue Einstellung zum Leben, für das jeder Mensch selbst verantwortlich zeichnet, findet Niederschlag in Demian.
1917
Hesse wird nahegelegt, seine zeitkritischen Zeitungspublikationen zu unterlassen, die er unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlicht.
1919
Hesse trennt sich von seiner in einer Heilanstalt internierten Frau und bringt die Kinder bei Freunden unter. Er zieht von Bern nach Montagnola, in den Süden der Schweiz, wo er seinen Lebensabend verbringen wird.
1921
Depressionen und eine Krise mit eineinhalbjähriger Unproduktivität zwischen den beiden Teilen seiner indischen Dichtung Siddhartha veranlassen Hesse dazu, bei C.G. Jung Psychotherapie in Küsnacht bei Zürich in Anspruch zu nehmen, die die Fertigstellung von Siddhartha 1922 stark beeinflußt. 4
1923
Hesse läßt sich von Maria Bernoulli scheiden. Er stellt fest, daß er unter einer Zwiespältigkeit seiner Seele leidet: „Ich wollte zwar ein Dichter sein, daneben aber auch ein Bürger.“ Dieser Zwiespalt wird im Steppenwolf (1927 erschienen) aufgearbeitet und führt zur Erkenntnis des Weges zum Inneren.
1924
Er wird wieder Schweizer Staatsbürger und heiratet die um 20 Jahre jüngere Sängerin Ruth Wenger.
1927
Auf Wunsch seiner zweiten Frau Ruth läßt sich Hesse scheiden. Der Steppenwolf erscheint, die Krisen mit Hesses Lebensgefährtinnen werden darin eingebettet.
1930
Der Roman Narziß und Goldmund, in dem Hesse Logos und Eros gegenüberstellt, erscheint.
1931
Er heiratet die österreichische Kunsthistorikerin Nina Dolbin, die ihn bis an sein Lebensende unterstützt.
1934
Zwecks besserer Abschirmung von der NS-Kulturpolitik und effektiverer Interventionsmöglichkeiten für die Kollegen wird Hesse Mitglied des Schweizer Schriftstellervereins.
1935
Eine Teilung des S. Fischer Verlages in Berlin wird politisch erzwungen. Es entsteht ein reichsdeutscher, von Peter Suhrkamp geleiteter Verlag, und der Emigrationsverlag von Gottfried Bermann Fischer, dem die NS-Behörden nicht erlauben, die Verlagsrechte am Werk Hesses mit ins Ausland zu nehmen.
1936
Hesse begegnet erstmals Peter Suhrkamp persönlich, den Hesse 1950 dazu ermutigt, einen eigenen Verlag zu gründen.
1939 - 1945 Hesses Werke gelten in Deutschland für unerwünscht. Zahlreiche Nachdrucke seiner berühmtesten Schriften werden deshalb verboten. 1944
Peter Suhrkamp wird von der Gestapo verhaftet. Hesse lehnt die gewaltsamen Veränderungen allgemein ab, nach dem Krieg weist Hesse auf die Schuld Deutschlands hin und gerät in Verruf bei der deutschen Bevölkerung.
1946
Hesse erhält den Nobelpreis für Literatur sowie den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Seine letzen Jahre verbringt er mit Antwortschreiben an Menschen aller Altersschichten, um Rat und Hilfe zu geben.
1962
Hesse stirbt am 9. August in Montagnola.
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WERKE
Erzählungen
Gedichte
Politische Flugschriften
1899 Eine Stunde hinter Mitternacht 1904 Biographischen Studien »Boccaccio« und »Franz von Assisi« Peter Camenzind 1906 Unterm Rad 1907 Diesseits 1908 Nachbarn 1913 Aus Indien 1917 Demian 1922 Siddhartha 1923 Sinclairs Notizbuch 1927 Nürnberger Reise Der Steppenwolf 1930 Narziß und Goldmund 1931 Klingsors letzter Sommer 1935 Fabulierbuch 1943 Das Glasperlenspiel 1954 Piktors Verwandlungen
1896 Das deutsche Dichterheim 1898 Romantische Lieder 1910 Unterwegs 1955 Stufen
1900 Artikel für die »Allgemeine Schweizer Zeitung« 1919 Blick ins Chaos
Literaturkritik 1929 Eine Bibliothek der Weltliteratur
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LITERARHISTORISCHE EINORDNUNG
Hermann Hesse läßt sich nur schwer oder gar nicht in eine literarhistorische Epoche einordnen, er ist ein Schriftsteller außerhalb der Strömungen. Wohl lassen sich aber seine Wurzeln und ursprünglichen Überzeugungen feststellen. Schon der junge Hermann Hesse, voll von Idealismus, strebt nach Vollkommenheit und Universalität. Als 18-Jähriger kommt er nach Tübingen, wo er eine Lehrstätte gefunden hat. Hier trifft er auch viele ehemalige Maulbronner Schulkameraden als jetzige Studenten wieder und findet Anschluß an der Universität. Die dreijährige Lehre ist eine Zeit der strengen Selbsterziehung. Nach den langen, anstrengenden Arbeitstagen widmet er sich in den Abendstunden den großen Werken der Weltliteratur und versucht, seinen eigenen geistigen Standort zu finden. Er liest Schiller, Lessing, Homer, Nietzsche und vor allem Goethe, mit dem er einen eigentlichen Kult betreibt. Er schreibt aber auch selber schon in dieser Zeit. Ab und zu glückt es ihm, einige seiner Gedicht in Zeitschriften unterzubringen. Die Form der Gedichte läßt eine starke Begabung erkennen. Hesse: „In den ersten Tübinger Zeiten war ich sehr strebsam und solide, später soff ich viel mit Studenten herum, erfüllte meinen Beruf aber gut.“1 Später fasziniert den 21-jährigen Hesse besonders die Welt der Romantiker, als er die Buchhändlerlehre in Tübingen abzuschließen beginnt. Er vertieft sich in romantische Dichtungen und beschäftigt sich vor allem mit Romantikern wie Novalis, Tieck, Eichendorff, Hölderlein, Brentano, Schleiermacher und Schlegel. Die Welt der Bücher, die immer mehr Hesses Welt der Freunde und der Gesellschaft ersetzt, ist der Ausgangspunkt für die ersten eigenen Dichtungen Hesses. 1898 erscheint seine erste Publikation: der Band Romantische Lieder, für dessen Druck er selbst aufkommen muß. Ein Jahr später folgt die Erzählung Eine Stunde hinter Mitternacht, Hesse erhält Lob von Rainer Maria Rilke. Anfangs tritt Hesse als Vertreter der Neuromantik auf und glaubt an die idealistische Humanität und das klassische Bildungsgut. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutet für Hesse allerdings eine außerordentliche und aufrüttelnde Wirkung, die zeit seines Lebens fortwirkt. Die Brutalitäten des Krieges, gegen die sich Hesse zusammen mit Romain Rolland und Stefan Zweig vergebens einzusetzen versucht, veranlassen ihn zu Kulturpessimismus und verstärktem Außenseitertum. Seine gegen den Krieg gerichteten Bemühungen bringen ihm nur Schmähbriefe ein, in denen er als Vaterlandsverräter bezeichnet wird. Dieses Erlebnis des Außenseitertums wird noch später in seinem Roman Der Steppenwolf aufgearbeitet. Hesse glaubt in dieser Zeit nicht mehr an den Wert der deutschen Gegenwartsliteratur, aus diesem Grund ist es ab dieser Schaffensperiode schwierig, Hesses Werke einzuordnen.
1
Michels Volker (Hrsg.), Hermann Hesse: Leben und Werk im Bild, Frankfurt/M. 1973, S.50
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WELTWEITE WIRKUNG
Hesse gilt nicht nur als einer der wichtigsten deutschsprachigen Epiker seiner Zeit, er gehört auch zu den meistgelesenen europäischen Autoren in den USA und in Japan und wird nahezu überall auf der Welt gelesen. Die Gründe für diese Popularität sind in der leichten Identifizierung mit Hesses Nöten, Sehnsüchten und Träumen zu finden, in der Bestärkung der Individualität eines jeden Menschen, aber auch in seinen fernöstlichen und psychologischen Ansätzen. Mitte der 60-Jahre, während des Vietnam-Konfliktes und den Hippie-Bewegungen, wird Hesse in Amerika schlagartig berühmt, fast eine Kultfigur für jugendliche Hippies. Besonders beliebt sind seine Romane Siddhartha und Der Steppenwolf, wobei Hesses Predigt gegen den Krieg und gegen die kollektive gleichmachende Masse als vorbildhaft gesehen wird. Hesses Beliebtheit in dieser Zeit führt aber auch zu einigen Mißinterpretationen seiner Romane, beispielsweise wird Bewußtseinserweiterung durch Drogen zu Hesses Lektüre empfohlen. Hesses Erzählungen gelten aber heute noch in allen Altersschichten als Wegweiser zur Individualität und Begleiter auf dem Weg der Emanzipation.
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AUTOBIOGRAPHISCHE ZUSAMMENHÄNGE „Beinahe alle Prosadichtungen, die ich geschrieben habe, sind Seeelenbiographien, in allen handelt es sich nicht um Geschichten, Verwicklungen und Spannungen, sondern sie sind im Grunde Monologe, in denen eine einzige Person, eben jene mythische Figur, in ihren Beziehungen zur Welt und zum eigenen Ich betrachtet wird.“ 2
Hermann Hesse bringt in seinem gesamten literarischen Schaffen seine eigenen Seelenkonflikte zum Ausdruck. Sein Werk stellt das Spiegelbild seiner selbst dar, seine Erzählungen verarbeiten seine Erlebnisse, wobei die psychische Verfassung des Autors immer entscheidender Faktor bleibt. Seine innere und äußere Welt läßt sich aufgrund der Gefühlswelt der Protagonisten in Hesses Prosadichtungen erschließen, wobei sich die Welten der Hauptfiguren oft mit der realen Welt des Autors überschneiden, sie sind oft sogar identisch. Schon in Hesses frühem Roman Unterm Rad spielen die autobiographischen Züge eine wesentliche Rolle. Hesse läßt die Hauptfiguren Hans Giebenrath und Hermann Heilner seine eigene Jugend erleben, wobei die zwei gegensätzlichen Charaktere einander ergänzen und zusammen zu einem Abbild des jungen Hesse werden. Hermann Heilner, der wohl nicht unbeabsichtigt dieselben Initialen wie Hermann Hesse trägt, verkörpert denjenigen Teil Hesses, der es geschafft hat, dem Leistungsdruck zu Hause und in der Schule durch Selbstsicherheit Paroli zu bieten. Er flüchtet – wie auch Hesse selbst – von der Schule und wird Dichter. Hesse spielt aber auf einen möglichen Selbstmord Hans Giebenraths, des anderen Teils seiner damaligen Persönlichkeit an, und deutet somit darauf hin, daß sein Schicksal auch einen anderen Lauf hätte nehmen können – hätte sich letztlich nicht sein selbstständigerer Teil durchgesetzt, wäre vielleicht auch er unters Rad gekommen. Hesse paßt seine Schülergeschichte sehr genau seiner eigenen Jugendgeschichte an und verändert nur wenig: Die Schauplätze, allen voran das Klosterseminar Maulbronn, sind dieselben wie in Hesses Jugend, auch die Handlungsabläufe weisen nur wenige Unterschiede zu Hesses eigenem Leben auf. Auch Hesses wesentlich später entstandene Roman Demian nimmt Bezug auf Hesses Schülerleben, wobei ein früheres Kapitel seiner Jugend aufgerollt wird, nämlich das der Lateinschule in Göppingen, in der er sich als zehnjähriger Knabe auf das Landexamen, das ihm den späteren Eintritt in das Maulbronner Klosterseminar ermöglichen wird, vorzubereiten hat. Der Protagonist des Romans, der diesmal in der ersten Person verfaßt ist, trägt diesmal den Namen Emil Sinclair. Hesse identifiziert sich natürlich wieder sehr stark mit dieser Hauptfigur, dessen Namen er auch als Pseudonym für seine zeitkritische Publizistik während des Ersten Weltkrieges verwendet. Die Rückschlüsse auf Hesses eigenes Leben sind wieder deutlich zu erkennen: Emil Sinclair muß wie der junge Hesse selbst Bekanntschaft mit der anderen, dunklen und bösen Welt machen, der Welt des schlechten Gewissens.
2
Baumer Franz, Köpfe des 20. Jahrhunderts, Berlin 1959 (Hermann Hesse, Bd. 10), S.11
9
Diese Welt zerrt ihn weg von der ihm bekannten, moralischen Welt und Geborgenheit des schützenden, aber auch strengen Elternhauses, bis ihm der geheimnisvolle, schützende Demian begegnet, der – wie es Hesse selbst ausgedrückt hat - weniger einen Menschen als vielmehr ein Prinzip darstellt. Weniger eindeutig werden die autobiographischen Bezüge in Hesses Roman Siddhartha, der fünf Jahre nach Demian erschienen ist. Aber auch hier läßt sich feststellen, daß das Leben der Hauptfigur Ähnlichkeit mit dem Hesses hat. Siddhartha muß in jungen Jahren sein Elternhaus verlassen, um seinen eigenen Weg zu finden, auch er muß verschiedene Etappen seines Lebens hinter sich lassen, um wieder neue zu beschreiten. Auch der Selbstmordversuch des fünfzehnjährigen Hesse findet wie auch schon in Unterm Rad, Der Steppenwolf und andeutungsweise in Demian Niederschlag in Siddhartha, der hinabsinkt „bis zum törichsten aller Gedanken, zum Gedanken des Selbstmordes, um […] erwachen zu können.“ Hesse, der sich nicht zwischen Bürgertum und Künstlertum entscheiden kann, greift in Der Steppenwolf seinen seelischen Zwiespalt auf. Die autobiographischen Züge in Der Steppenwolf gehen weniger aus der Handlung oder den Schauplätzen des Romans hervor als aus dem Gefühlsleben der fünfzigjährigen Hauptfigur Harry Haller, der nicht nur wieder dieselben Initialen wie Hermann Hesse trägt, sondern auch gleich alt wie Hesse zur Erscheinung des Romans ist. Eine weitere Parallele zu Hesses Leben läßt sich aus dem Außenseitertum Harry Hallers schließen, der aufgrund seines Pazifismus wie Hesse während des Ersten Weltkrieges als Vaterlandsverräter gilt. Aus der Vergangenheit Harry Hallers lassen sich außerdem wieder vergangene Probleme Hesses erschließen: Sowohl die geisteskrank gewordene Ehefrau als auch die aufgrund autoritärer Erziehung schwierige Jugend sind nicht nur bei der Hauptfigur, sondern auch bei Hesse selbst zu finden. Auch in Narziß und Goldmund verzichtet Hesse nicht auf Parallelen zu seinem eigenen Leben. Der junge Goldmund, der Hauptcharakter des Romans, flüchtet wie schon die Romanfigur Hermann Heilner in Unterm Rad aus einem Kloster, jedoch flieht er nicht wie Hesse aus dem Kloster Maulbronn, sondern aus dem Kloster Mariabronn. Der Grund für die Flucht Goldmunds ist dem des fünfzehnjährigen Hesse ähnlich: Goldmund begibt sich wie schon Siddhartha auf die Suche nach sich selbst, allerdings um seiner mütterlichen, kreativen Veranlagungen gewahr zu werden. „Das vollkommene Sein“, die Selbstverwirklichung, findet Goldmund in seiner Handwerkskunst, während Hesse sie in der Schriftstellerei gefunden hat.
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KINDHEIT UND ERZIEHUNG “Ich war das Kind frommer Eltern, welche ich zärtlich liebte und noch zärtlicher geliebt hätte, wenn man mich nicht schon frühzeitig mit dem vierten Gebote vertraut gemacht hätte. Gebote aber haben leider stets eine fatale Wirkung auf mich gehabt, mochten sie noch so richtig und noch so gut gemeint sein. ... Ich brauchte nur das „Du sollst“ zu hören, so wendete sich alles in mir um und ich wurde verstockt.“3
Hermann Hesse war der Sohn von Eltern, die ein Familienleben von beinahe mönchischer Frömmigkeit geprägt haben. Hesses Eltern opfern sich beide für ihre Arbeit, der Mission. Die Ansichten der Eltern stoßen auch schon sehr früh auf das Wesen des jungen Hesse, der der konservativen und autoritären Haltung des Elternhauses zunächst unbewußten Widerstand entgegenbringt. Sein Temperament, seine Energie und Phantasie, die sich bald in Trotz und Eigensinn äußern, irritieren die Eltern sehr: “Hermann hat die Mägde nach Kräften tyrannisiert und in allem seinen Willen durchgesetzt. Ich habe ihn nun in spezielle Zucht genommen.... Von der Rute hat er nun doch endlich einen heilsamen Respekt bekommen. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß ein eineinhalbjähriges Bürschchen schon so ungeheure Kraft, Energie, Waghalsigkeit und doch zugleich soviel Liebenswürdigkeit entwickeln könnte.“4 Als Hesse mit seinen Eltern nach Basel zieht, beginnt für den 4-Jährigen eine glückliche Zeit, jedoch wird er bald mit dem Schrecken der strengen Schule konfrontiert, in der Lehrer nicht mit harten Strafen und Schlägen sparen. Er verliert das Vertrauen gegenüber den bisher schützenden und Geborgenheit ausstrahlenden Eltern, die ihn nicht vor der Übermacht der Lehrer bewahren können. Hesses Eltern werden mit dem frühreifen Kind nicht fertig und schicken ihn weg in die Lateinschule in Göppingen, wo Hesse sich unter enormen Leistungsdruck auf das Württembergische Landexamen vorzubereiten hat, das ihm später den kostenlosen Eintritt in das Maulbronner Klosterseminar ermöglichen wird. Bis Hesse sein früh erkanntes Dichtertum gegenüber den starren Traditionen der Familie durchsetzt, vergehen Zeiten des Leidens und innerer seelischer Konflikte, die ihn zu seinem Selbstmordversuch treiben, der, wenn er nicht thematisiert, in den Romanen Hesses zumindest erwähnt wird. In Hesses frühem Roman Unterm Rad, liegt der Schwerpunkt der Thematik auf Hesses Schwierigkeit mit der autoritären Schule, die Schüler zu einer gleichmachenden Masse schaltet. Sein von Krisen und Leistungsdruck durchschütteltes Leben im Kloster Maulbronn wird darin beschrieben. Auch in Demian spielt die Kindheit Hesses eine wesentliche Rolle. Emil Sinclair, die Hauptfigur des Romans, macht in seiner Kindheit erstmals Bekanntschaft mit der bösen, dunklen Welt der Triebe und des schlechten Gewissens, die im völligen Widerspruch zu der hellen, moralischen Welt der Eltern steht. Der helfende Max Demian holt Sinclair aus der dunklen in die helle Welt zurück, jedoch dauert es nicht lange, bis ihn die Welt der Triebe wieder heimsucht. Diese Phase der Pubertät Sinclairs, die stellvertretend für Hesses eigene steht, wird in Demian folgendermaßen beschrieben: 3 4
Michels Volker (Hrsg.), Hermann Hesse: Leben und Werk im Bild, Frankfurt/M. 1973, S.8 Michels Volker (Hrsg.), Hesse: Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt/M. 1979, S.15
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„Wie fast alle Eltern, so halfen auch meine nicht den erwachenden Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen nur, mit unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche zu leugnen und in einer Kinderwelt weiter zu hausen, die immer unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun können, und mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit mir fertig zu werden und meinen Weg zu finden und ich tat meine Sache schlecht, wie die meisten Wohlerzogenen.“ Max Demian hilft Emil Sinclair, selbstständiger zu werden und die andere ‚böse‘ Welt der Triebe, die ihn von seiner Kindheit wegzerrt, zu akzeptieren und in sich zu integrieren. Er beginnt beim christlichen Gott: „Es handelt sich darum, daß dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das Väterliche, das Schöne und das Hohe, das Sentimentale – ganz recht! Aber die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun einfach alles dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte wird unterschlagen und totgeschwiegen. Gerade wie sie Gott als Vater alles Lebens rühmen, aber das ganze Geschlechtsleben, auf dem das Leben doch beruht, einfach totschweigen und womöglich für Teufelszeug und sündlich erklären! Ich habe nichts dagegen, daß man diesen Gott Jehova verehrt, nicht das mindeste. Aber ich meine, wir sollen Alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte!“ Auch in Siddhatha wird deutlich das man alle Aspekte des Lebens und der Welt verehren oder lieben soll: „Die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein.“ Indem Demian sagt, daß man deshalb fairer Weise neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst einrichten müsse, spielt er wieder auf den Gott Abraxas an, der Gut und Böse in sich vereint (vgl. Kapitel Dichotomie und Zwiespalt). „Darum muß jeder von uns für sich selber finden, was erlaubt und was verboten – ihm verboten ist,“ fügt Demian hinzu.
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C.G. JUNG UND INDIVIDUATION „Alle diese Gespräche, auch das Banalste, trafen mit leisem, stetigem Hammerschlag auf denselben Punkt in mir, alle halfen an mir bilden, Eierschalen zerbrechen, und aus jedem erhob sich der Kopf etwas höher, etwas freier, bis mein gelber Vogel einen schönen Raubvogelkopf aus der zertrümmerten Weltschale stieß.“ 5
Hesse erlebt im Laufe seines Lebens wie schon die meisten Hauptfiguren seiner Romane einige psychische Krisen, in denen er mit Depressionen und seelischen Konflikten zu kämpfen hat. 1916 führt der Tod von Hesses Vater, die beginnende Schizophrenie seiner Frau und Erkrankung seines jüngsten Sohnes zu einem Nervenzusammenbruch Hesses. Der 39Jährige nimmt daraufhin erstmals bei J.B. Lang, einem Schüler C.G. Jungs, Psychotherapie in Anspruch. Hesse wird ab 1921 auch mehrmals von C.G. Jung selbst in Küsnacht bei Zürich therapiert und überwindet so seine eineinhalbjährige kritische Phase der Unproduktivität, die ihn nach der Niederschrift des ersten Teiles von Siddhartha befallen hat. Die therapeutischen Behandlungen durch den mittlerweile berühmten Psychotherapeuten C.G. Jung helfen Hesse nicht nur seine Persönlichkeit zu bilden und festigen, sie beeinflussen auch seine Prosadichtungen maßgeblich. Vor allem das Bild der Individuation, das C.G. Jung in seiner Komplexen Psychologie entwickelt hat, findet Niederschlag in Hesses Romanen. Das Thema der Individuation des Menschen, die jeder vollziehen soll, um die ihm angelegten unterschiedlichen Seelenanteile zu einem Ganzen zu verwirklichen, durchzieht vor allem die Romane, die nach den psychotherapeutischen Sitzungen Hesses entstanden sind, namentlich die Erzählungen Demian, Siddhartha, Der Steppenwolf und Narziß und Goldmund. „Der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehende Zwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe.“ Mit dieser Feststellung Hesses wird der Grundgedanke der Komplexen Psychologie und des Persönlichkeitsschemas nach Jung deutlich: Der Mensch trägt verschiedene Möglichkeiten, verschiedene Ichs oder Seelenanteile in sich – es gilt nun, diese Seelenanteile zu einem ganzheitlichen Menschen zu vereinen, eine Einheit zu schaffen. Das wird auf dem Weg der Selbstfindung erreicht, die verschiedenen, oft widersprüchlichen Möglichkeiten werden im Laufe des Lebens erkannt, nicht mehr verdrängt und in die Ganzheit aufgenommen, auch wenn alte Ichs getötet werden müssen, um neue Entwicklungsstufen zu erreichen, auch wenn zahlreiche Etappen auf schmerzlichem Wege hinter sich gelassen werden müssen, um neue zu beschreiten: „Dieser Steppenwolf mußte, geschmolzen im Todesfeuer einer erneuten Selbstschau, sich wandeln, seine Maske abreißen und eine neue Ichwerdung begehen.“
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Michels Volker (Hrsg.), Hesse: Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt/M. 1979, S.153
13
Die Maske (Persona) „Der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehende Zwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe.“
Die oben erwähnte Maske könnte auch auf den Einfluß Jungs zurückgeführt werden. Jung nennt diese Maske, die oft nichts anderes als eine vorgetäuschte soziale Fassade darstellt, Persona. Auch am Ende der Erzählung Siddhartha, als Govinda seinen vollendeten Freund Siddhartha küßt, taucht wieder das Schema der Maske auf, wobei Hesse dies nicht einmal beabsichtigt haben muß: „[…] alle diese Gestalten und Gesichter ruhten, flossen, erzeugten sich, schwammen dahin und strömten ineinander, und über alle war beständig etwas Dünnes, Wesenloses, dennoch Seiendes, wie ein dünnes Glas oder Eis gezogen, eine durchsichtige Haut, eine Schale oder Form oder Maske von Wasser, und diese Maske lächelte, und diese Maske war Siddharthas lächelndes Gesicht, das er, Govinda, in ebendiesem selben Augenblick mit den Lippen berührte. Und, so sah Govinda, dies Lächeln der Maske, dies Lächeln der Einheit über den strömenden Gestaltungen, die Lächeln der Gleichzeitigkeit über den tausend Geburten und Toden, dies Lächeln Siddharthas war genau dasselbe, war genau das gleiche, stille, feine, undurchdringliche, vielleicht gütige, vielleicht spöttische, weise, tausendfältige Lächeln Gotamas, des Buddhas, wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht gesehen hatte. So, das wußte Govinda, lächelten die Vollendeten.“ Diese möglicherweise unbewußte Einbettung der Maske, die bei Jung Persona genannt wird und die äußerste Schicht des kollektiven Bewußtseins darstellt (vgl. Abb.), findet in Siddhartha eine positivere Bedeutung als in Der Steppenwolf. Dies widerspricht nicht unbedingt den Theorien C.G. Jungs, denn selbst Jung räumt ein, daß ein gewisses Ausmaß an „Hülle“ angenommen werden soll, es soll nur nicht so weit führen, daß sich das Ich mit der Persona identifiziert und nur mehr die Maske gelebt wird. Der wahre Siddhartha befindet sich wohl hinter seiner lächelnden Maske. Hinter dem lächelnden Gesicht Siddharthas spürt Govinda während das Kusses auf jene Maske schließlich auch die verschiedenen Ichs und Gestaltungen Siddharthas, die alle zusammen in Siddhartha zu einer Einheit finden. In Demian, Hesses erstem Roman nach einer Jungschen Therapie, findet eine auffallend ähnliche Szene wie in Siddhartha statt. Max Demian klärt Emil Sinclair über die Wertlosigkeit allzu klugen Redens auf: „ Das kluge Reden hat gar keinen Wert, gar keinen. Man kommt nur von sich selber weg. Von sich selber wegkommen ist Sünde. Man muß sich in sich selber völlig verkriechen können wie eine Schildkröte.“ Kurz darauf im Konfirmationsunterricht bemerkt Sinclair, daß der sitzende Demian eine sonderbare, totenähnliche Starre eingenommen hat: „Nach einer Weile begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigentümliches zu spüren, eine Leere oder Kühle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz unversehens leer geworden. Als das Gefühl beengend zu werden anfing, drehte ich mich um. Da sah ich meinen Freund sitzen, aufrecht und in guter Haltung wie sonst. Aber er sah dennoch anders aus als sonst, und etwas ging von ihm aus, etwas umgab ihn, was ich nicht kannte. Ich glaubte, er habe die Augen geschlossen, sah aber, daß er sie offen hielt. Sie blickten aber nicht, sie waren nicht sehend, sie waren starr und nach innen oder in eine große Ferne gewendet. Vollkommen regungslos saß er da, auch zu atmen schien er nicht, sein Mund war wie aus Holz oder Stein geschnitten. Sein Gesicht war blaß, gleichmäßig bleich, 14
wie ein Stein, und die braunen Haare waren das Lebendigste an ihm. Seine Hände lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wie Gegenstände, wie Steine oder Früchte, bleich und regungslos, doch nicht schlaff, sondern wie ein feste, gute Hüllen um ein verborgnes starkes Leben. Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich , beinahe sagte ich es laut. Aber ich wußte, daß er nicht tot sei. Ich hing mit gebanntem Blick an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte: das war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, einer, der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. Der wirkliche Demian sah aber so aus, so wie dieser, so steinern, uralt, tierhaft, steinhaft, schön und kalt, tot und heimlich voll von unerhörtem Leben. Und um ihn her diese stille Leere, dieser Äther und Sternenraum, dieser einsame Tod!“ Wieder verwendet Hesse den Begriff Maske für das Gesicht eines Vollendeten. Auch hier stellt sie nichts Negatives dar, man könnte sie als Verbindung zwischen der göttlichen Einheit und der irdischen Vielfalt sehen. Jedenfalls wird auch in dieser Szene die Persona deutlich: Demian spielt nur eine Rolle, um in der Gesellschaft mitwirken zu können, der wahre Demian steckt aber hinter der Maske, nur ohne Maske wäre er wohl nicht wahrnehmbar, nicht für Sinclair oder sonst einen Menschen. Auch der Aspekt, daß „das kluge Reden […] gar keinen Wert" hat, taucht in Siddhartha wieder auf, denn „die Worte tun dem geheimen Sinn nicht gut, es wird immer alles ein wenig anders, wenn man es ausspricht, ein wenig verfälscht, ein wenig närrisch – ja, und auch das ist sehr gut und gefällt mir sehr, auch damit bin ich sehr einverstanden, daß das, was eines Menschen Schatz und Weisheit ist, dem anderen immer wie Narrheit klingt." Schließlich muß aber auch die verfälschende Sprache der Menschen wie alle anderen Aspekte des menschlichen Lebens akzeptiert, geliebt, verehrt und in die Gesamtheit integriert werden. Schatten In Der Steppenwolf erkennt die Hauptfigur Harry Haller, daß er seine wölfische und seine bürgerliche Natur vereinen muß. Negative Eigenschaften, das soganannte Böse oder - wie Jung es ausdrückt - die Schatten, müssen dabei auch bewußt gemacht werden und in die gesamtheitliche Einheit aufgenommen werden. Auch Emil Sinclair in Demian muß sich der bösen Welt, deren Anteile auch in ihm vorhanden sind, bewußt werden. Dabei hilft ihm Demian (die Figur des helfenden Bewußtmachers nimmt Narziß in Hesses späteren Roman Narziß und Goldmund wieder ein). Der Gott Abraxas verkörpert die Vereinigung der ‚guten‘ und ‚bösen‘ Welt, er stellt die Vereinigung der Gegensätze dar, eine Rolle, die die Urmutter Eva in Narziß und Goldmund übernehmen wird. Auch die Persönlichkeitsfindung Sinclairs ist wie die des Steppenwolfs eine schmerzhafte, weil vorangegangene Ichs im Zuge der Selbstverwirklichung oder Selbstfindung zerstört werden müssen: „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“ (vgl. Anfangszitat Hesses) Siddhartha trachtet ebenfalls nach vollendender Einheit, seine Etappen der Persönlichkeitsfindung lassen sein Ich letztendlich in die Einheit oder das Nirwana fließen.
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Hesse verbindet in Siddhartha also seine durch C.G. Jungs Komplexer Psychologie beeinflußte Lebensphilosophie mit dem Buddhismus, den er schon von Kindheit an kennt. Archetypen Schon in der Benennung des Romans Narziß und Goldmund werden zumindest zwei unterschiedliche Charaktere deutlich. Goldmund strebt danach, das bisher geführte Klosterleben im Sinne seines Vaters zu verlassen, um zurück zu seinen verdrängten mütterlichen, kreativen Seelenanteile zu finden. Die Elemente der Psychologie C.G. Jungs sind aber nicht nur in der angestrebten Individuation Goldmunds deutlich erkennbar, sondern auch in den zahlreichen, im Laufe des Romans auftretenden Urbildern, den von C.G. Jung entdeckten Archetypen. Der wichtigste dieser Archetypen, auf dessen Suche sich Goldmund ständig befindet, ist der der Urmutter Eva, die Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung vereint. Animus - Anima Ein weiterer Bestandteil aus C.G. Jungs Theorie der menschlichen Psyche faßt in Hesses Erzählungen Fuß: Besonders in Narziß und Goldmund wird das Prinzip von Animus und Anima, der männlichen und weiblichen Seelenatneile, die beide wieder in die ganzheitliche Persönlichkeit des Menschen aufgenommen werden sollen, deutlich. Der Asket Narziß stellt hierbei die männlichen Anteile dar, er verkörpert Geist, Verstand und Seßhaftigkeit, während Goldmunds Anlagen auf der mütterlichen Seite ausgeprägter sind, die Anima-Anteile der Natur, des Triebs, der Kunst und Wanderschaft dominieren. Diese Dichotomie von Geist und Natur, Eros und Logos, Animus und Anima wird im nächsten Kapitel Dichotomie und Zwiespalt näher behandelt.
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DICHOTOMIE UND ZWIESPALT „Die beiden Pole des Lebens zueinander zu biegen, die Zweistimmigkeit der Lebensmelodie niederzuschreiben, wird mir nie gelingen. Dennoch werde ich dem dunklen Befehl in meinem Innern folgen und werde wieder und wieder den Versuch unternehmen müssen. Dies ist die Feder, die mein Ührlein treibt.“ 6
Schon aus dem vorangegangenen Kapitel wird klar, daß Hesse die Gegensätze des Lebens thematisiert und danach trachtet, sie möglichst in das Ganzheitliche einfließen zu lassen. Hesse sieht das Leben als einen allumfassenden Gegensatz, den man allgemein auch den Konflikt zwischen Geist und Natur bezeichnen kann. Man versteht darunter die Urtriebkräfte der Menschheit, aus Sicht der Freudschen Psychoanalyse sind das die psychischen Instanzen Es und Ich beziehungsweise Über-Ich, zutreffender für Hesse wäre wohl aber Eros und Logos. Die beiden Extrema ziehen sich zwar an, können sich jedoch niemals erreichen, somit halten sich diese Kräfte in einem wechselnden Gleichgewicht. Schon in Hesses frühem Roman Unterm Rad läßt sich die Dichotomie der Hauptfiguren Hans Giebenrath und Hermann Heilner feststellen. Es wäre jedoch falsch, zu behaupten, daß Hesse dem extrovertierten Hermann Heilner den Vorzug gibt, weil er sich im Gegensatz zum introvertierten Hans Giebenrath, der in den Selbstmord getrieben wird, als Dichter und gegenüber den starren Schulstrukturen besser durchsetzt. Hesse selbst besteht nämlich aus beiden Charakteren, die Hauptfiguren sind beide nur Teile eines Ganzen. Im Roman Narziß und Goldmund, in dem wieder eine Dichotomie anhand von zwei unterschiedlichen Figuren ersichtlich wird, läßt Hesse die gegensätzlichen Charaktere sich gegenseitig beschreiben: „Die Naturen von deiner (Goldmunds) Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns anderen, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben... Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker.“ Goldmund möchte wie Hesse selbst, diese Pole verbinden, um sein Leben voll ausnützen zu können, aber: „Man war entweder Frau oder Mann, entweder Landfahrer oder Spießbürger, entweder verständig oder gefühlig – nirgends war Einatmen und Ausatmen, Mannsein und Weibsein, Freiheit und Ordnung, Trieb und Geist gleichzeitig zu erleben, immer mußte man das eine mit dem Verlust des anderen bezahlen, und immer war das eine so wichtig und begehrenswert wie das andere!... Ach, und es hatte dies ganze Leben doch nur dann einen Sinn, wenn beides sich erringen ließ, wenn das Leben nicht durch dies dürre Entweder-Oder gespalten war!“ Der Gegensatz zwischen Geist und Natur läßt sich aber noch in eine andere Dimension übertragen - es handelt sich dabei um einen Aspekt, der Hesses eigenes Leben stark betrifft: den Konflikt zwischen bürgerlicher Existenz und künstlerischem Außenseitertum. Besonders in Der Steppenwolf kommt diese Thematik zu tragen, die Hauptfigur Harry Haller flieht vor seinem Spießbürgertum, steht aber gleichzeitig bei seinem wölfischen Außenseitertum an. 6
Lüthi Hans Jürg, Hermann Hesse; Natur und Geist, Stuttgart 1970, S.10
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Hermann Hesse strebt eine Synthese der Gegensätze an, er sieht sein Leben als einen Versuch, diese zu erreichen (vgl. Anfangszitat). Wie Goldmund entdeckt auch Hesse in der künstlerischen Selbstverwirklichung eine harmonisierende Verbindung der Gegensätze Geist und Natur, Eros und Logos, Verstand und Trieb. „Die Kunst konnte im Sinnlichsten beginnen und ins Abstrakteste führen, oder konnte in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden.“ „Alle jene Kunstwerke, die.... vom ewigen Geheimnis erfüllt waren,.... hatten das gefährliche, lächelnde Doppelgesicht, dies Mann-Weibliche, dies beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit.“ Um jedoch in der Kunst die Selbstverwirklichung zu finden, müssen Goldmund wie auch Siddhartha und die anderen Protagonisten aus Hesses Romanen – und natürlich auch Hesse selbst – Erfahrungen sammeln, die sie auf ihren eigenen Lebensweg finden. Dies ist ein weiterer Grund für die Individuation, die durch die verschiedenen Wanderungen der Hauptfiguren zum Ausdruck gebracht wird. Goldmund: „Das ist der Brunnen, aus dem ich geschöpft habe.“
Im folgenden abschließenden Zitat Hesses wird neben dem Versuch, den triebhaften Eros im Menschen zu verteidigen, deutlich, daß nicht generell ein bestimmter Pol zu bevorzugen ist. Statt dessen muß jeder Mensch in jedem Moment seines Lebens den eigenen Weg zwischen Geist und Natur, Bürger und Außenseiter, Denker und Künstler, Intro- und Extravertiertem finden: „Nach meiner Meinung sind in meiner Generation weit mehr Menschenleben durch allzu große Einschnürung und Hemmung des Trieblebens verpfuscht worden als durch das Gegenteil. Darum habe ich in einigen meiner Bücher mich zum Anwalt und Helfer dieses unterdrückten Trieblebens gemacht [...]. Unser Ziel ist [...] nicht: auf Kosten unsrer Natur zu lauter Geist zu werden. Unser Ziel ist auch nicht: auf Kosten der Güte, der Liebe und Menschlichkeit ein möglichst wildes Willkürleben zu führen. Sondern wir müssen zwischen den beiden Forderungen, denen der Natur und denen des Geistes, unsren Weg suchen, aber nicht einen starren Mittelweg, sondern jeder seinen eigenen, elastischen, auf welchem Freiheit und Bindung abwechseln wie Einatmen und Ausatmen.“(1954)7
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Michels Volker (Hrsg.), Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha, Frankfurt/M. 1986, S. 249
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