Berlins, in der unzählige Touristen verkehrten. Whoops! There was a problem loading this page. Sneak Peek- Die letzte K
Christine
Die S-Bahn war rappelvoll, ihre Haare pitschnass und sie hatte ihr Smartphone zu Hause vergessen, der Tag schien also nicht sehr vielversprechend für Christine zu werden. Wie jede gute Berlinerin (obwohl sie länger als zwei Drittel ihres Lebens im Ausland verbracht hatte), verachtete sie die Touristen. Diese schrecklichen Wesen, die jeden Donnerstag in Berlin ankamen, um ein aufregendes und verrücktes Wochenende in der Hauptstadt zu verbringen. Indem sie beispielsweise die Zugänge zu Bahnhöfen, Bäckereien und Cafeterien blockierten, verhielten sie sich komplett rücksichtlos gegenüber den Leuten, die in dieser Stadt wohnten und in Eile waren, weil sie einen wichtigen Termin wahrnehmen mussten oder pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen hatten. Aber am meisten hasste sie die Dorfmädchen, die nach Berlin angereist waren, um den Junggesellinnenabschied einer Freundin zu feiern. »Wie konnte es sein, dass die zukünftige Braut nicht ihre Freundschaft mit den sogenannten Freundinnen beendete, nachdem sie gezwungen wurde, sich zu verkleiden und allen möglichen lächerlichen und obszönen Kopfschmuck zu tragen? Nichts auf dieser Welt war unwürdiger als dies!«, dachte Christine empört. Ihr Spiegelbild auf dem Fenster der S-Bahn lenkte ihre Aufmerksamkeit zu wichtigeren Angelegenheiten zurück, so wie zum Beispiel der wenig schmeichelhaften Tatsache, dass ihre Haare an diesem Morgen schrecklich aussahen, da sie keine Zeit gehabt hatte, sich zu stylen. Christine hatte eine Besessenheit in Bezug auf ihre Haare entwickelt und gab ein Vermögen für professionelle Haarprodukte aus. Ihre Haare waren braun, lang und sanft gewellt. Eigentlich schöne Haare, die aber zweifellos viel Pflege benötigten. Sie hatte alle Friseursalons Berlins ausprobiert, die sich in einem Umkreis von 200 Kilometern befanden. Aber leider schaffte es keiner, sie zu begeistern. Sie war der Meinung, einen guten Friseur zu finden gleiche einem „Sechser“ im Lotto und zwar in der Woche, in der der Jackpot außergewöhnlich hoch war. Christine war noch nicht über die Horrorerfahrung hinweggekommen, die sie letzten Samstag erlitten hatte, als sie in einem neuen Friseursalon im Stadtteil Wilmersdorf
gewesen war und den sie mit dem Aussehen verlassen hatte, als hätte sich ihre kleine Schwester erlaubt, Friseur zu spielen. Der grausame Kommentar, den sie am Montagmittag auf Qype geschrieben hatte, konnte ihre Wut ein wenig besänftigen, wenn auch nicht vollständig verschwinden lassen. Die Wahrheit war, dass es einer der Lieblingsbeschäftigungen von Christine war, jeden Samstag neue Friseursalons auszuprobieren und über diese jeden Montag neue, oftmals gnadenlose Kommentare zu verfassen. Diese Beauty Salons, Imageberater, Stylisten und all die anderen lächerlichen Begriffe, die die Friseurgeschäfte heutzutage verwenden (um professioneller zu wirken und sich von der Masse abzuheben), waren Christines Ansicht nach nur Euphemismen einer Bande von inkompetenten Stümpern, die ihre Haare diesen Samstag – oder an einen anderen beliebigen Samstag – komplett zerstört hatten. Aufgrund ihrer erbarmungslosen Kommentare hatte Christine so viele Bedrohungen bekommen, dass sie ihre Pseudonyme bei Qype acht Mal ändern musste. Aber sie würde sich nicht unterkriegen lassen, dachte Christine. Sie fühlte sich verpflichtet, alle Mädchen dieser Welt darüber zu informieren, wie katastrophal viele Friseursalons in Berlin arbeiteten. Also warnte sie Mädchen, die genauso verzweifelt waren wie sie, auf der unermüdlichen Suche nach dem perfekten Friseur. Abgesehen von diesem Tick war Christine alles andere als oberflächlich. Mutter Natur hatte sie mit einer außergewöhnlichen Schönheit gesegnet, so vollkommen, dass sie sogar als Model oder Schauspielerin hätte arbeiten können (hübsch zu sein und einen tollen Körper zu haben, scheinen heutzutage Voraussetzungen dafür zu sein, um erfolgreich in der Filmbranche arbeiten zu können. Oder kann mir jemand den Namen einer Schauspielerin nennen, die unscheinbar ist?). Ihre beruflichen Ziele und Ambitionen waren allerdings ganz andere. Aufgrund eines schmerzhaften Schicksalsschlages in der Vergangenheit hatte Christine beschlossen, Medizin zu studieren. Es war 1994 und ihr Vater, der Diplomat war und als Botschafter in vielen afrikanischen Ländern gearbeitet hatte, wurde zum deutschen Botschafter in Gabun ernannt. Es war auch in diesem Jahr, dass sich der Ebolavirus ausbreitete (der erste Ausbruch geschah im Jahr 1976 in Zaire, heute als Kongo bekannt), der wiederum für den Tod
ihrer Mutter verantwortlich war. Mit vierzehn Jahren und inmitten des Erwachsenwerdens hatte ihr das Leben die einzige Bezugsperson geraubt, die sie jemals gehabt hatte. Denn wenn man die Tochter eines Diplomaten ist, kann man keine Freundschaften für das Leben schließen. Spätestens alle fünf Jahre (wenn nicht eine Krise oder blutiger Bürgerkrieg in einem dieser afrikanischen Länder ausgebrochen war, die die Europäer, die sich dort befanden, dazu zwangen, das Land zu verlassen), war es Zeit, die Koffer zu packen und in ein neues Land zu ziehen. Dies brachte es mit sich, dass Christine stets in neuen Schulen zurechtkommen musste, sich mit neuen Mitschülern anfreundete und sich an andere Sitten zu gewöhnen hatte. Glücklicherweise war sie nicht die Einzige, der es so erging. Alle Sprösslinge von Diplomaten, Beamten von internationalen Organisationen oder europäischen Institutionen, die die internationalen Schulen in Afrika besuchten, teilten ihr Schicksal. Im Laufe ihres Studiums hatte sich Christine auf die Mikrobiologie spezialisiert, insbesondere auf das Fach Virologie. Aber da es keine freie Stellen in dem renommierten Robert-Koch-Institut gab (aufgrund seines erfolgreichen Kampfes in der Forschung ansteckender Krankheiten weltweit bekannt), hatte sie einen Job als Internistin in einer Privatklinik in der Friedrichstraße angenommen, also einer der Straßen Berlins, in der unzählige Touristen verkehrten.