... auch schon irgendeines seiner Werke – zumindest aus Erzählungen – kennt.
... von Thomas Mann vor Augen, wird schnell klar, dass allein das Vorlesen der ...
Zum Werk von Thomas Mann – eine literarisch-anthropologische Betrachtung Anna Kling
Der historische Hintergrund zur Person Thomas Manns ist durch die vorangegangenen Ausführungen über sein Leben nun sicherlich etwas aufgefrischt, aber wie sieht es mit dem Wissen um sein Werk aus, das ja sein Leben stellenweise stark autobiographisch widerspiegelt? Auch hier lagen die Herausforderungen in der Vorbereitung auf diesen Vortrag keineswegs in der Knappheit des vorhandenen Materials, denn mit dem Werk Thomas Manns könnte man sich (Primär- und Sekundärliteratur zusammengenommen) vermutlich mehrere Leben lang intensiv beschäftigen, ohne dass sich ein Ende abzeichnen würde. Aber nicht nur die zeitlichen und inhaltlichen Rahmenbedingungen stellen eine Herausforderung dar, sondern auch der Umstand, dass bestimmt jeder von Ihnen schon einmal von Thomas Mann gehört hat und auch schon irgendeines seiner Werke – zumindest aus Erzählungen – kennt. Um Sie inhaltlich weder zu langweilen noch zu überfordern, möchte ich Ihnen meine persönliche Auswahl von Thomas Manns Werken präsentieren, von der ich meine, dass sie insbesondere für Sie als Ärzte und Apotheker, aber auch als Christen, als Sinn-Suchende, von besonderem Interesse sein dürften. Hält man sich eine Auflistung sämtlicher Werke – 8 Romane, über 30 Erzählungen, unzählige Essays, zahlreiche intensive Briefwechsel und eher nüchtern und knapp gehaltene Tagebücher – von Thomas Mann vor Augen, wird schnell klar, dass allein das Vorlesen der einzelnen Titel mein Zeitkontingent übersteigen und Ihre Geduld strapazieren würde. Aus diesem Grund, aber auch, um mit Blick auf das Tagungsthema „der Verflechtung leiblicher und seelischer Vorgänge“ nachzugehen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf jene Bereiche in Thomas Manns Werk lenken, in denen es in besonderer Weise um die Wissenschaften vom Menschen geht. Gewissermaßen präsentiere ich Ihnen das Werk Thomas Manns als „literarische Anthropologie“, also als schriftstellerische Auseinandersetzung mit der ureigensten Frage, die den Menschen schon seit jeher beschäftigt hat: die Frage nach sich selbst. Zum Einstieg habe ich ein Zitat ausgewählt, das Sie sicherlich alle auswendig mitsprechen können und das sich thematisch wie ein roter Faden gleichermaßen durch Leben und Werk von Thomas Mann zieht: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen: die eine hält in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen; die andre hebt gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden hoher Ahnen.“ [Goethe, Faust]
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Wie Sie sicherlich bemerkt haben, stammt das Zitat gar nicht vom zu behandelnden Autor selbst, sondern aus dem „Faust“ von Goethe. Allerdings ist dieser faustsche Widerstreit im Leben wie auch im Werk Thomas Manns allgegenwärtig und hat insbesondere hinsichtlich der oben erwähnten „Verflechtung leiblicher und seelischer Vorgänge“ eine große Bedeutung. Mit seinem Roman „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ hat Thomas Mann sogar die – schon vor Goethes Zeiten – altbekannte Geschichte vom Pakt zwischen Mensch und Teufel auf seine eigene Art literarisch umgesetzt. Auf diesen mannschen Doktor Faustus, der im Jahr 1947 veröffentlicht wurde, möchte ich daher auch am intensivsten eingehen, insbesondere wegen des darin enthaltenen ewigen Widerstreits zwischen Geist und Natur menschlichen Lebens. Außerdem bietet der Roman viele Anhaltspunkte für einen Einblick in das Werk des Schriftstellers allgemein – Thomas Mann selbst nannte Doktor Faustus seine „Lebensbeichte“ und erklärte: „Zeitblom [der Freund von Adrian Leverkühn, aus dessen Sicht der Roman verfasst ist, Anm. AK] ist eine Parodie meiner selbst. In Adrians Lebensstimmung ist mehr von meiner eigenen, als man glauben sollte – und glauben soll.“ Da zumindest Goethes Faust allen bekannt sein dürfte und die Parallelen zu Thomas Manns Roman auf der Hand liegen, möchte ich direkt auf die für unsere Tagung besonders relevanten Passagen eingehen. Neben medizinischen Diskursen über Syphilis, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte, gibt es zwei Kapitel, die sich eingehend mit naturwissenschaftlichen aber auch anthropologischen Fragen beschäftigen. So schildert Adrians Jugendfreund Zeitblom in Kapitel III eine Szene aus deren gemeinsamen Kindheit und berichtet, wie sehr sich Adrians Vater, Jonathan Leverkühn, für die Erscheinungen der Natur interessierte. Gemeinsam stellen sie anhand Jonathan Leverkühns „farbig illustrierten Bücher über exotische Falter und Meergetier“ Überlegungen über die Beschaffenheit der verschiedenen Lebewesen und die Entstehung des Lebens an. Zudem führt Jonathan Leverkühn mit verschiedenen „physikalischen Apparaten“ wunderlich anmutende Experimente durch. Dabei lässt er (anorganische) Kristalle zu pflanzenähnlichen, organisch anmutenden Strukturen „heranwachsen“. Während Adrian diese Experimente seines Vaters als Spielerei belächelt, hält sein Freund Zeitblom entsetzt fest: „Gespenstereien wie diese sind ausschließlich Sache der Natur, und zwar besonders der vom Menschen mutwillig versuchten Natur. Im würdigen Reiche der Humaniora ist man sicher vor solchem Spuk.“ Zur Frage nach der Entstehung der Natur an sich geht Zeitblom davon aus, „daß die Natur sich selber macht, und nicht den Schöpfer heranzog, den als phantasievollen Kunstgewerbler und ehrgeizigen Künstler der Glasurtöpferei zu imagi2
nieren, denn doch sein Seltsames hat, so daß nirgends die Versuchung näher liegt, als hier, einen werkmeisterlichen Zwischengott, den Demiurgos, einzuschalten […].“ Dieses implizierte Bild vom Menschen als „Zwischengott“ hat angesichts der neuen biomedizinischen Forschung nichts an Aktualität eingebüßt. Im Kapitel 27 schildert Adrian seinem Freund detailreich eine Tauchfahrt in die Tiefen des Ozeans, die er angeblich unternommen hat und auf der er neue Arten und Formen des Lebens beobachten konnte. „Adrian sprach von dem Erkenntniskitzel, den es bereitete, das Unerschaute, nicht zu Erschauende, des Geschautwerdens nicht sich Versehende dem Blicke bloßzustellen. Das damit verbundene Gefühl der Indiskretion, ja der Sündhaftigkeit wurde nicht ganz beschwichtigt und ausgeglichen durch das Pathos der Wissenschaft, der erlaubt sein muß, so weit vorzudringen, wie es ihrem Witz eben gegeben ist.“ Hier wird der Gegensatz zwischen grenzenloser naturwissenschaftlicher Forschung und religiöser Zurückhaltung aus Angst vor einem Tabubruch erkennbar. Nach der Schilderung der Tiefseereise erklärt Adrian auf schwindelerregende Weise die räumlich-zeitlichen Zusammenhänge im kosmischen Gefüge und die Beschaffenheit des Weltalls. Zeitblom ist angesichts der von Adrian angeführten Zahlen und Daten verwirrt und macht deutlich, dass seine Prioritäten an anderer Stelle liegen: „Was soll man auf einen solchen Angriff auf den Menschenverstand sagen? Ich bekenne, so geartet zu sein, daß mir nichts als ein verzichtendes, aber auch etwas verächtliches Achselzucken übrig bleibt für das Unrealisierbar-Überimposante. Bewunderung der Größe, Enthusiasmus für sie, ja Überwältigtsein von ihr […] ist nur möglich in faßlich-irdischen und menschlichen Verhältnissen. Die Pyramiden sind groß, der Montblanc und das Innere des Petersdomes sind groß, wenn man dieses Attribut nicht überhaupt lieber der moralischen und geistigen Welt, der Erhabenheit des Herzens und des Gedankens vorbehalten will. Die Daten der kosmischen Schöpfung sind ein nichts als betäubendes Bombardement unserer Intelligenz mit Zahlen, ausgestattet mit einem Kometenschweif von zwei Dutzend Nullen, die so tun, als ob sie mit Maß und Verstand noch irgend etwas zu tun hätten. Es ist in diesem Unwesen nichts, was meinesgleichen als Güte, Schönheit, Größe ansprechen könnte, und nie werde ich die Hosianna-Stimmung verstehen, in die gewisse Gemüter durch die sogenannten ‚Werke Gottes’, sofern sie Weltphysik sind, sich versetzen lassen. Ist überhaupt eine Veranstaltung als Gottes Werk anzusprechen, zu der man ebensogut ‚Wenn schon’ wie ‚Hosianna’ sagen kann?“ Gegen den rein naturwissenschaftlich-empirischen Versuch einer „Welterklärung“ hält Zeitblom sein anthropozentrisch-transzendental geprägtes Weltbild: „Welche Ehrfurcht und welche der Ehrfurcht entstammende Sittigung des Gemütes kann ausgehen von der Vorstellung eines unermeßlichen Unfugs wie des explodierenden Weltalls? Absolut keine. Frömmigkeit, Ehrfurcht, seelischer Anstand, Religiosität sind nur über den Menschen und durch den Menschen, in der Beschränkung auf das Irdisch-Menschliche möglich. Ihre Frucht sollte, kann und wird ein religiös tingierter Humanismus sein, bestimmt von dem Gefühl für das 3
transzendente Geheimnis des Menschen, von dem stolzen Bewußtsein, daß er kein bloß biologisches Wesen ist, sondern mit einem entscheidenden Teil seines Wesens einer geistigen Welt angehört; daß ihm das Absolute gegeben ist, die Gedanken der Wahrheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, daß ihm die Verpflichtung auferlegt ist zur Annäherung an das Vollkommene. In diesem Pathos, dieser Verpflichtung, dieser Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst ist Gott; in hundert Milliarden Milchstraßen kann ich ihn nicht finden.“ Anhand dieser Schilderungen wird deutlich, „wie fugenlos sich naturwissenschaftliche Motive in die Gesamtkonzeption des Werkes einfügen“ und „wie sich besonders die weltanschaulichen Sinnstiftungsangebote der Biologie und Physik einem nach konzeptuellem Ausdruck suchenden und aufmerksam-kritischen Autor zur literarischen Verwendung geradezu aufdrängen.“ [Malte Herwig: Bildungsbürger auf Abwegen, Thomas-Mann-Studien 32. Band] Aber ich möchte nun auch Thomas Mann selbst zur Sprache kommen lassen, was die Verwendung von Wissen und Wissenschaft in seinen Werken betrifft. Schon 1894, im Alter von 19 Jahren, schrieb er in einem Brief an seinen Freund Grautoff: „Zu der intellektuellsten der Künste, der Wortkunst, gehört nicht nur Gefühl und Technik, sondern auch Wissen, es sei denn, daß man unter die Lyriker gehen will und verhungern.“ Manns Recherchen waren an Gründlichkeit kaum zu übertreffen – oft lassen sich ganze Passagen zwischen Originalquelle und schriftstellerischem Werk mit großer textlicher Übereinstimmung gegenüberstellen. In einem Brief an Adorno vom 30. Dezember 1945 beschreibt Thomas Mann seine Schreibtechnik gar als eine „Art von höherem Abschreiben“. Der „Künstler“ Thomas Mann hat sich also in Vorbereitung auf entsprechende Passagen das erforderliche Fachwissen durch Lesen der entsprechenden Quellen und durch Gespräche mit Experten angeeignet. Das offenbar werdende Fachwissen in seinem Werk zeigt, dass er dieses „höhere Abschreiben“ ebenso in die Breite wie in die Tiefe betrieben hat, denn die beschriebenen naturwissenschaftlichen Themen sind ebenso vielseitig wie detailgenau. Er selbst „wehrte“ sich jedoch dagegen, als „Universalgenie“ zu gelten – aber hören Sie selbst, wie er das in einem Brief an Irita Van Doren vom 28. August 1951 ausdrückte: „Nicht ohne eine Gebärde schamvoller Abwehr zum Beispiel nehme ich zuweilen wahr, daß man mich auf Grund meiner Bücher für einen geradezu universellen Kopf, einen Mann von encyklopädischen Wissen hält. Eine tragische Illusion! In Wirklichkeit bin ich für einen – verzeihen Sie das harte Wort – weltberühmten Schriftsteller von einer schwer glaublichen Unbildung. Auf Schulen habe ich nichts gelernt, als Lesen und Schreiben, das kleine Einmaleins und etwas Lateinisch. Alles übrige wies ich mit dumpfer Hartnäckigkeit ab und galt für einen ausgemachten Faulpelz, – voreiliger Weise; denn später entwickelte ich einen Bienenfleiß, wenn es galt, ein dichterisches Werk wissenschaftlich zu fundieren, 4
d.h. positive Kenntnisse zu sammeln, um literarisch damit zu spielen, streng genommen also, um Unfug damit zu treiben. So war ich nacheinander ein gelernter Mediziner und Biologe, ein firmer Orientalist, Ägyptolog, Mytholog und Religionshistoriker, ein Spezialist für mittelalterliche Kultur und Poesie und dergleichen mehr. Das Schlimme aber ist, daß ich, sobald das Werk, um dessentwillen ich mich in solche gelehrten Unkosten gestürzt, fertig und abgetan ist, alles ad hoc Gelernte mit unglaublicher Schnelligkeit wieder vergesse und mit leerem Kopf in dem kläglichen Bewußtsein vollständiger Ignoranz herumlaufe. Man kann sich also das bittere Lachen vorstellen, mit dem mein Gewissen auf jene Lobeserhebungen antwortet.“ Loben möchte ich Thomas Mann bei all seiner ironischen Bescheidenheit aber dennoch, denn seine Kunst des „höheren Abschreibens“ zeigt ganz deutlich: er gehörte nicht zu denen, die ihr (Fach-) Wissen um des Wissens selbst anhäuften und schließlich immer mehr über immer weniger wussten. Für Thomas Mann erlangte Wissen erst durch sinnstiftende Vermittlung Bedeutung, also wenn er es literarisch verwertete und es so einem breiten Publikum näherbringen konnte. Durch Thomas Manns Fähigkeit, wissenschaftliche Themen derart literarisch aufzuarbeiten, konnten gewisse Erkenntnisse überhaupt einem derart breiten Publikum zugänglich gemacht werden: wer außer Thomas Mann hat so vielseitige Themen wie Philosophie, Theologie, Geschichte und Medizin bis hin zur Kunst und Musik in diesem Umfang literarisch behandelt? Durch seine gründliche Vorbereitung wirken seine Schilderungen besonders authentisch und wahrheitsgetreu – allerdings sorgte die mitunter allzu große Ähnlichkeit der Protagonisten seiner Bücher mit tatsächlichen Personen in seinem Umfeld (insbesondere innerhalb der Familie) häufig für Empörung. Dies trifft in besonderer Weise auf seinen im Jahr 1901 veröffentlichten ersten Roman zu: die Buddenbrooks. Darin wird der über mehrere Generationen hinweg fortschreitende Verfall einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geschildert. Als Grundlage dienten Thomas Manns eigene Familie und Familiengeschichte sowie einige Bürger aus seiner Heimatstadt Lübeck – dort kursierten sogar Entschlüsselungslisten, welche die Charaktere im Buch jenen aus dem „richtigen Leben“ gegenüberstellten. Auf die Welle von Empörung reagierte Thomas Mann später in einem Essay wie folgt: „Fragt nicht immer, wer soll das sein. […] Sagt nicht immer, das bin ich, das ist jener. Es sind nur Äußerungen des Künstlers gelegentlich Eurer. Stört nicht mit Klatsch und Schmähungen seine Freiheit.“ [Essay: Bilse und Ich, 1906]
Von seiner Methode, die Wirklichkeit als Vorlage für seine Werke zu nutzen, weicht er nicht ab, aber er gibt sie immerhin zu. Er entschuldigte sich sogar bei dem Schriftsteller Gerhard Hauptmann dafür, dass er ihn in der Person des Mynheer Peeperkorn im Zauberberg karikiert 5
hat. Der Zauberberg, der 1924 erschien, erzählt die Geschichte der persönlichen Entwicklung von Hans Castorp im Rahmen eines (freiwilligen) Sanatoriumsaufenthalts. Auch hier glänzt Thomas Mann mit ausführlichen fachlichen Beschreibungen – insbesondere im Bereich der Medizin – und wartet mit fundierten naturwissenschaftlichen Überlegungen auf, insbesondere im Kapitel „Forschungen“. Sein dortiger Exkurs zur Frage, was denn das Leben sei, hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt: „Was war das Leben? Man wusste es nicht. Es war sich seiner bewußt, unzweifelhaft, sobald es Leben war, aber es wußte nicht, was es sei. […] Was war das Leben? Niemand wußte es. Niemand kannte den natürlichen Punkt, an dem es entsprang und sich entzündete. […] Was war also das Leben? Es war Wärme, das Wärmeprodukt formerhaltender Bestandslosigkeit, ein Fieber der Materie, von welchem der Prozeß unaufhörlicher Zersetzung und Wiederherstellung unhaltbar verwickelt, unhaltbar kunstreich aufgebauter Eiweißmolekel begleitet war. Es war das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden, des nur in diesem verschränkten und fiebrigen Prozeß von Zerfall und Erneuerung mit süß-schmerzlich-genauer Not auf dem Punkt des Seins Balancierenden. Es war nicht materiell, und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem, ein Phänomen, getragen von Materie, gleich dem Regenbogen auf dem Wasserfall und gleich der Flamme.“ Mit dieser Frage nach dem menschlichen Leben, nach dem Kern des Seins, bewegt sich Thomas Mann literarisch auf einer Ebene mit Max Scheler, einem der Begründer der so gennanten Philosophischen Anthropologie. Daher darf das Werk Thomas Manns mit Blick auf Naturwissenschaft und Medizin durchaus als eine literarische Anthropologie gelten, die auch philosophisch gelesen werden kann. In der Tat kannte Thomas Mann Max Schelers Werk „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ von 1930 und äußerte sich lobend über dessen philosophische Anthropologie. Mann schreibt, er „glaube mit Scheler, daß Geist und Leben ‚aufeinander hingeordnet’ sind, und daß es ein Grundirrtum ist, sie in ursprünglicher Feindschaft oder in einem Kampfzustande zu denken.“ [Thomas Mann, zitiert in Fußnote 755 in Malte Herwig: Bildungsbürger auf Abwegen]
Denn auch wenn er an seiner Weltentrücktheit scheitere, so sei Hans Castorp im Zauberberg doch letztlich „der Mensch selbst mit seiner religiösen Frage nach sich selbst, nach seinem Woher und Wohin, seinem Wesen und Ziel, nach seiner Stellung im All, dem Geheimnis seiner Existenz, der ewigen Rätsel-Aufgabe der Humanität.“ [Thomas Mann, zitiert in Fußnote 755 in Malte Herwig: Bildungsbürger auf Abwegen]
Diese ewige Rätsel-Aufgabe, die vielen Widersprüche und Gegensätze kann zwar auch Thomas Mann nicht lösen, aber er hat zumindest ein Mittel, um sie unterhaltsam und stilvoll aufzulockern: die Ironie. Die Ironie ist sein literarisches Wundermittel, das den Ausgleich zwischen den zwei Seelen des faustschen Widerstreits schafft, das die knisternde Spannung zwischen den Gegensätzen zu überbrücken vermag, ohne sie dabei zu zerstören. 6
Gewissermaßen wird das Knistern zu einer spannungsgeladenen Melodie, in der sich die Gegensätze in Eintracht gegenüberstehen. Durch diese Verwendung von Ironie gelingt sogar die Verbindung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu einer perfekten Symbiose. Mittels Ironie kann sich der Autor zudem ein Stück weit von seinem Werk und seinen Charakteren distanzieren – dieses als „ironische Distanz“ bekannte Stilmittel hat Thomas Mann fast durchgängig in seinen Werken eingesetzt, sozusagen als eine Art Schutzschild zwischen Autor und Werk. Mithilfe der Ironie überbrückt Thomas Mann jedoch nicht nur den ursprünglichen faustschen Widerstreit, sondern er arbeitet damit auf äußerst feinsinnige Weise den Kontrast zwischen Gegensätzen heraus – im Zauberberg beispielsweise Wärme/Kälte, Entstehung/Zerfall, Feuer/Wasser, Gesundheit/Krankheit, Leben/Tod, Individuum/Kollektiv oder Berg/Tal. Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ von 1912 beinhaltet einige gute Beispiele für eine eher subtile Verwendung von Gegensätzen. Die Novelle erzählt die Reise des erfolgreichen Schriftstellers Gustav von Aschenbach nach Venedig, wo er der Schönheit eines Jünglings verfällt; was folgt ist der innere und äußere Zerfall des Protagonisten, der schließlich seine Würde und auch sein Leben verliert. Auch hier werden wieder Gegensätze wie alt/jung, schön/hässlich, innen/außen, warm/kalt ausgearbeitet. Im Namen „Aschenbach“ werden die Gegensätze „Feuer“ und „Wasser“ vereint, die in der Handlung mehrfach aufgegriffen werden (z.B. Sonne/Meer). Besondere Tragik erzielt Mann mit der Gegenüberstellung innerer und äußerer Merkmale: Von Aschenbachs heiße Liebe zu dem schönen Jüngling in der „Wasserstadt“ Venedig endet für ihn im Tod durch Cholera, deren Merkmale Dehydratation und Hypothermie, also Verlust von Wasser und Wärme, sind. Darüber hinaus verwendet Thomas Mann häufig symbolische Motive (Aschenbach trinkt Granatapfelsaft – ein Symbol für Tod und Verführung) und mythologische Elemente (z.B. Zahlmeister und Gondoliere in Anspielung auf den Fährmann zum Hades), die er geschickt in die Handlung einbaut. Doch bei der reinen Verwendung mythologischer Elemente kann es ein Thomas Mann natürlich nicht belassen – vielmehr schreibt er seine eigene Interpretation eines Mythos, indem er die biblische Josephsgeschichte literarisch umsetzt. Von 1926 bis 1943 schrieb Thomas Mann an der Tetralogie „Joseph und seine Brüder“, die mit ihren vier Büchern „Die Geschichte Jaakobs“, „Der junge Joseph“, „Joseph in Ägypten“ und „Joseph der Ernährer“ sein umfassendstes Werk darstellt. Besonders interessant ist dabei, dass sich Manns Perspektive in gewisser Weise verändert – sonst sind seine bürgerlichen „Helden“, wenn man sie denn so 7
nennen mag, eher wirklichkeitsfern und schaffen es nicht, den Widerstreit zwischen Geist und Natur zu überwinden, um in Harmonie zu leben. Mit Joseph sieht es da anders aus – weder plagt ihn die faustsche innere Zerrissenheit noch versucht er krampfhaft, den schönen Schein einer längst bröckelnden Fassade aufrecht zu erhalten. Thomas Mann selbst beschreibt diese Wende weg von der individuell-bürgerlichen Bildungsliteratur hin zur reinen Urform des Mythos wie folgt: „Es ist wohl eine Regel, daß in gewissen Jahren der Geschmack an allem bloß Individuellen und Besonderen, dem Einzelfall, dem „Bürgerlichen“ im weitesten Sinne des Wortes allmählich abhanden kommt. In den Vordergrund tritt: Das Typische, Immer-Menschliche, Immer-Wiederkehrende, Zeitlose, kurz: das Mythische.“ Die Josephsromane sind für Mann also eine Besinnung auf das Wesentlichste, Ureigenste des Menschen, quasi eine Rückkehr des Menschen zu sich selbst. Bezeichnend ist, dass Mann ausgerechnet während seiner Arbeit an der Josephstetralogie noch ein weiteres Meisterwerk gelingt, nämlich „Lotte in Weimar“, mit einem Thema, an das er sich lange nicht herangetraut hat: Johann Wolfgang von Goethe. „Lotte“ steht für Charlotte Kestner, geborene Buff, die Goethe als Vorlage für „Die Leiden des jungen Werther“ gedient hatte. In Manns Roman reist Charlotte als alte Dame nach Weimar, um ihre Schwester zu besuchen – insgeheim hofft sie jedoch auf ein Wiedersehen mit Goethe. Thomas Mann lässt sein großes Vorbild Goethe auf sprachlich äußerst anspruchsvolle Weise und gründliche historische Recherche im Text lebendig werden – sei es durch konstruierte Monologe, die theoretisch durchaus von Goethe hätten stammen können, oder durch das Einflechten belegbarer Zitate des großen Dichters. Dadurch ist oft nicht klar, ob es sich nun um die Worte Goethes oder Manns handelt, wie auch bei diesem Zitat, das von beiden stammen könnte: „Ironie ist das Körnchen Salz, durch welches das Aufgetischte erst genießbar wird.“ Auch wenn Thomas Mann sich dieses „Rezept“ literarisch gesehen verinnerlicht hat, muss er hier „höheres Abschreiben“ zugeben – das Zitat stammt nämlich von Goethe. Thomas Manns letzter großer Roman „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil“ erschien 1954. Im Vergleich zu den meisten sprachlich wie inhaltlich schweren, anspruchsvollen Werke Thomas Manns herrscht in diesem Abschlusswerk eine geradezu heitere Stimmung und der ironische Schreibstil ist von einer ungeheuren Leichtigkeit geprägt. Daher eignet sich Felix Krull als Einstieg in die Literatur von Thomas Mann in besonderer Weise. Leider kam es nicht mehr zu einer Fortsetzung des Romans, da Thomas Mann knapp ein Jahr nach Erscheinen des Buches starb.
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Zur Handlung in aller Kürze nur so viel: Der Protagonist Felix Krull mogelt sich geschickt mit allerlei Täuschungsmanövern durch sein Leben. Da er mit seinen kleinen Flunkereien nie richtig auffliegt, wird er mit seinem immer durchtriebener werdenden hochstaplerischen Vorgehen zum ausgefuchsten Betrüger, dessen Legitimation er sich selbst ableitet: „Die erwachsenen und im üblichen Maße lebenskundigen Leute aber, die sich so willig, ja gierig […] betören ließen, mußten sie nicht wissen, daß sie betrogen wurden?“ Er gelangt schnell zu der Überzeugung, dass die Menschen geradezu betrogen werden wollen. Daher geht Felix Krull – sei es nun aus Rücksicht, Mitleid oder Eigennutz – dazu über, seinen Mitmenschen gegenüber die Wahrheit zu verschweigen oder abzuändern, ohne dabei jedoch das 8. Gebot zu brechen, da er mit seinen Flunkereien streng genommen kein falsches Zeugnis gegen Andere ablegt. Thomas Mann selbst teilt diese Haltung seines Protagonisten freilich nicht, sondern er meint: „Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge.“ Gleichzeitig erkennt Mann jedoch fast schon versöhnlich an: „Es ist schwer, es zugleich der Wahrheit und den Leuten recht zu machen.“ Um es Ihnen als Ärzte und Apotheker recht zu machen, möchte ich auf die Ansätze für unsere eingangs angestellten anthropologischen Überlegungen zurückkommen, die sich auch bei Felix Krull finden. So hält beispielsweise Krulls Begleiter Professor Kuckuck einen teilweise sehr wirren Exkurs über seine Theorie der drei Urzeugungen, nämlich: „das Entspringen des Seins aus dem Nichts, die Erweckung des Lebens aus dem Sein und die Geburt des Menschen“. Daraus entwickelt er seine Erklärung dessen, was den Menschen im Gegensatz zum Tier ausmache: „Es [ist] das Wissen von Anfang und Ende. […] Fern davon nämlich, daß Vergänglichkeit entwerte[t], [ist] gerade sie es, die allem Dasein Wert, Würde und Liebenswürdigkeit verleih[t].“ Dieses Wissen von Anfang und Ende, diese Vergänglichkeit muss ich Ihnen nun leider wieder ins Bewusstsein rufen, wenn ich mit Blick auf die Uhr zum Ende meiner Ausführungen komme. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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